16.Kapitel

35 5 0
                                        

Völlig außer Atem blieben wir am Waldrand stehen. Hektisch blickte ich mich um. Was wenn der Polizist uns gefolgt war? Aber ich konnte nichts mehr entdecken. Ich war froh, dass hier in dieser Stadt nur sehr wenig Schnee lag, denn so konnte man unsere Spuren nicht verfolgen. Bei uns am Gullideckel lagen dagegen über zehn Zentimeter Schnee, in dem unsere Spuren sicherlich leicht zu entdecken gewesen wären.
„Endlich mal wieder ein Adrenalinkick", sagte Sebastian grinsend.
„Das war gar nicht lustig", beschwerte ich mich.
„Ich wäre fast gestorben!"
„Ach, was!", lachte Sebastian mich aus.
„Werd mal ein bisschen lockerer. Du musst überzeugt sein, von dem was du tust, sonst wirst du nie sorgenfrei leben können", belehrte er mich.
Ich gab ihm einen zweifelnden Blick.
„Nein, das ist mein Ernst!", verteidigte er sich.
„Wenn man von sich selbst und von dem überzeugt ist, was man tut, dann ist es auch viel schwieriger für andere Menschen, Kontrolle über dich zu haben."
Ich seufzte: „Okay, ich werde es versuchen. Denn das wäre mein Albtraum. Stell dir mal vor, ich würde alles noch so unsinnige tun, was irgendjemand mir befiehlt. Das wäre echt krass."
„Nein, du darfst es nicht versuchen, du musst es tun. Das ist das allerwichtigste.
Aber bevor wie alle willenlos gemacht werden, hauen wir eben ab", scherzte er.
„Manchmal denke ich wirklich über so etwas nach", gab ich zu.
„Was?", fragte Sebastian entsetzt.
Dann belehrte er mich sofort erneut mit seinen Weisheiten: „Man sollte nicht vor Problemen weglaufen, sondern sie vor Ort lösen."
„Und wenn man keine Probleme hat?", konterte ich.
„Warum willst du dann flüchten?"
„Vielleicht weil ich mich einfach unsicher fühle", sagte ich hilflos.
Sebastians Blick wurde weich.
„Aber ich beschütze dich doch. Das weißt du. Warum fühlst du dich dann noch unsicher?"
Wir waren stehen geblieben. Völlig vertieft in diese einzigartige Konversation antwortete ich leise: „Du wirst nicht immer da sein, um mich zu beschützen..."
Sebastian schluckte.
„Saliah, bitte...sprich nicht darüber. Du kannst dich auch selbst gut wehren." Halb lächelnd deutete er auf die Kratzer auf seiner Wange.
„Ich habe es selbst erfahren."
Ich strich mir meine Haare aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Du verstehst das nicht. Ich habe keine Angst vor der Zukunft. Ich habe Angst vor der Gegenwart."

„Du hast Recht. Das verstehe ich wirklich nicht. Erklär es mir." Er sah mir forschend in die Augen. Ich hielt seinem intensiven Blick stand.
„Ich weiß es selbst nicht. Wenn etwas in der Zukunft geschieht, dann passieren schon vorher schwerwiegende Ereignisse, woraus man dann schließen kann, was vorfallen wird. Aber was, wenn es einfach so passiert, ohne irgendwelche Hinweise oder Anzeichen? Davor hab ich Angst."
„Aber was soll passieren?"
„Es herrscht Krieg, Sebastian. Alles kann passieren. Das ist es, was mir Angst macht. Die unbegrenzten Möglichkeiten."
Ich sah, wie er das überdachte, was ich gesagt hatte. Dann holte er tief Luft.

„Weißt du Sal, es gibt so vieles, das einem Angst machen kann. Bevor ich dich kennengelernt hatte, fürchtete ich mich vor so etwas auch. Aber als du weinend in meine Küche geworfen wurdest...Ich dachte das, was vermutlich jeder normale Junge denken würde. 'Was ist denn das für eine Heulsuse?'
Doch als du mich dann angesehen hast, wurde mir klar, das du das nicht bist. Ich konnte es sehen. Ich konnte deine Kraft sehen. Vielleicht kannst du sie nicht sehen. Aber ich weiß, dass sie da ist. Tief in deinem inneren.
Auf jeden Fall strahlst du sie aus. Und ich weiß jetzt, dass - egal was auch kommt - ich gegen alles ankämpfen kann. Solange du da bist. Deine Augen, sie haben etwas besonderes. Für mich sind sie wie ein Licht. Das Licht im Dunkeln, das dich wieder auf den richtigen Weg führt. Und auch als wir gekämpft haben, da habe ich gesehen, welchen Kampfgeist du hast. Weißt du, dass ich am Anfang zu dir gesagt habe, die siehst aus, wie ein Kätzchen, dass denkt, es sei ein Tiger? Das war total falsch. Du bist ein Tiger in Form eines Kätzchens. So klein, so schwach, aber doch so stark. Über die letzten Monate hast du mir gezeigt, dass man alles schaffen kann. Und ich kann mich gegen alles wehren, solange ich in deine Augen sehen kann, solange du mit mir sprichst. Das weiß ich. Und, das verspreche ich dir, ich werde dich nie, nie alleine lassen. Ich werde genauso für dich kämpfen, wie auch für mich. Ich lass dich nicht alleine."

Geschockt sah ich Sebastian an. Plötzlich bemerkte ich, wie mir Tränen herunterliefen. So etwas hatte noch nie irgendjemand zu mir gesagt. So etwas schönes.
Zittrig holte ich Luft. Dann hob ich meine Hand, um meine Tränen wegzuwischen, aber Sebastian war schneller. Als seine Hand mein Gesicht berührte, fühlte es sich an, als ob 100 Stromschläge gleichzeitig diesen einen Punkt trafen. Aber keine schmerzhaften Stromschläge, nein im Gegenteil. Angenehm. Aufregend. Schön.
Ich musste lächeln und legte mein Gesicht in seine Hand, die überhaupt nicht kalt war, obwohl es zu schneien begonnen hatte. Auch er lächelte und begann vorsichtig, mein Gesicht zu streicheln. Meine Hand fuhr gleichzeitig über seine dicke Winterjacke bis hin zu seinem Hals, wo ich endlich seine Haut anfassen konnte. Langsam tastete ich mich bis zu seinem Kinn vor. Verwundert bemerkte ich, dass er eine Gänsehaut bekommen hatte. Ich musste noch breiter lächeln. Und in diesem Moment geschah es. Die schönen Stromschläge wurden zu mehr. Es war nicht so wie in einem Film, wenn sich die Schauspieler langsam mit ihren Lippen nähern, es war in Sekunden vorbei. Unsere Lippen lagen aufeinander. Es fühlte sich überhaupt nicht komisch an, sondern genau richtig. Ich öffnete meine Lippen vorsichtig, und er seufzte wohlig. Wir standen dicht aneinander gepresst, ich streichelte seinen Nacken, er ließ seine Hände über meine Hüften gleiten. Von meiner unteren Magengegend ging ein warmes Gefühl durch meinen ganzen Körper. Ich fühlte mich, als ob ich jeden Moment abheben könnte und einfach nur fliegen würde.
Wenn da nicht noch Sebastian wäre, der mich mit seinen starken Händen fest auf dem Boden hielt. Ich fing an, schneller zu atmen, als der Kuss inniger wurde. Ich wollte nicht, dass dieses schöne Gefühl vorbeiging. Ich wollte ewig dort bleiben, wo ich jetzt war. Zwischen Himmel und Erde, mit ihm in meinen Armen. Er atmete jetzt auch schwerer.
Als wir beide keine Luft mehr bekamen, mussten wir aufhören. Völlig außer Atem, aber auch befreit, lächelten wir uns breit an.
„Wir sollten zurückgehen", schlug Sebastian mit rauer Stimme vor.
Ich nickte, unfähig irgendetwas zu erwidern. Ich war immer noch total geflasht.
Wir gingen schweigend nebeneinander her. Er hatte meine Hand ergriffen.

Als wir bei dem Gullideckel angekommen waren, drückte ich seine Hand.
„Sebastian, danke. Für alles. Du hast mir so schön Mut gemacht." Ich lächelte.
„Und du warst der erste, mit dem ich so etwas gefühlt habe. So etwas überwältigendes."
Sebastian lächelte ebenfalls, und für mich war das schöner als tausend Worte von ihm. Wir machen das später auf dem Zimmer nochmal, okay?"
„Aber klar, Süße", sagte er schelmisch und küsste mich auf die Wange. 1000 Stromschläge.
„Aber ich werde erster da sein", flüsterte er mir ins Ohr und verschwand im Gulli. Und ich stand da und lachte, wie ich es schon lange nicht mehr getan hatte.

RUNAWAY (on hold)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt