Epilog - Silvester

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Darin besteht die Liebe: Dass sich zwei Einsame beschützen und berühren und miteinander reden. (Rainer Maria Rilke, Lyriker)


Inzwischen waren genau fünf Jahre vergangen und ich war einundzwanzig. Ich hatte Englisch und Wirtschaft studiert, um später mal Lehrerin werden zu können, aber seit ich von Dooney and Bourke festangestellt worden war, die mich bei dem Victoria's Secret Walk gesehen hatten, arbeitete ich für sie und verdiente ganz gut.
Jake arbeitete für seine Tante und war zweiter Geschäftsleiter, weshalb auch er nicht schlecht dastand.
Wir hatten uns in England niedergelassen und ein bescheidenes Haus am Strand gekauft, das wir, noch zu zweit, bewohnten.

Heute ist Silvester und Jake und ich laufen auf der Fifth Avenue entlang, ohne Ziel vor Augen. Zumindest denke ich das. Ich habe gedacht, dass wir wieder Schlittschuhlaufen gehen würden, wie jedes Jahr, aber dafür laufen wir in die falsche Richtung und außerdem hätte ich es dann gewusst, weil ich meine Schlittschuhe einpacken hätte müssen.
Wir biegen irgendwann in eine andere Straße ein, deren Name ich nicht kenne. Obwohl ich fast genauso viel in New York bin wie in München, kenne ich mich nicht sonderlich gut aus.
Jake fasst nach meiner Hand und ich umgreife seine fester, damit er weiß, dass ich ihm zustimme. Ich liebe ihn noch immer so sehr wie am ersten Tag unserer Beziehung.
Plötzlich bleibt Jake stehen und ich merke es gar nicht, bis er an meiner noch immer mit seiner verschränkten Hand zieht.
,,Was machen wir denn hier?", frage ich ihn nach einem kurzen Blick auf das Gebäude neben uns. Wir stehen vor dem Empire State Building und was mich am meisten verwundert, ist, dass niemand ansteht, um hineinzukommen. Sollte nicht der ganze Turm gestürmt sein, weil Silvester ist?
Jake lacht auf meine Frage mit diesem Blick, den ich inzwischen gut kenne. Er hat einen Plan, von dem er denkt, dass er mich überraschen kann, ob nun im positiven oder negativen Sinne. Ich runzle die Stirn und setze wieder zum Wort an, als er mich unterbricht. ,,Ich habe eine tolle Überraschung", er grinst und hält einen langen, dünnen Schal in der Hand. Ich ahne schlimmes.
,,Ich binde mir ganz bestimmt nicht diesen Schal um die Augen! Was die Öffentlichkeit davon denken wird!"
Er grinst schon wieder. ,,Welche Öffentlichkeit?"
Mir schwant Übelstes. ,,Du hast doch nicht dafür gesorgt, dass wir hier alleine sind, oder?"
Er grinst wieder nur. Warum grinst er immer?!
Ich gebe mich geschlagen, als er mir den Schal umwickelt. Wie peinlich...
Er führt mich irgendwo entlang und dann treten wir in einen Aufzug ein, was ich erst bemerke, als dieser nach oben fährt. Er führt mich wieder weiter, als der Aufzug angekommen ist, und wir bleiben stehen. Beziehungsweise ich bleibe stehen und er lässt mich alleine.
,,Jake?", ich greife zu dem Knoten an meinem Hinterkopf und will ihn gerade öffnen, als er mir einen Klaps auf die Finger gibt. Ich atme erleichtert auf.
Als er den Schal abgenommen hat, ermahnt er mich, die Augen dennoch noch nicht zu öffnen. Ich komme mir dumm vor. Wenn das irgendein dummer Witz ist, dann... Naja, was könnte ich schon tun? Aber irgendetwas würde mir definitiv einfallen.
Ich höre eine Stimme: ,,Du kannst deine Augen jetzt öffnen."
Was ich sehe, verschlägt mir den Atem. Jake kniet vor mir und im Hintergrund sehe ich New York in der Nacht, wie die Stadt beleuchtet ist. Außerdem ist im Gebäude alles weihnachtlich geschmückt und ich sehe sogar einen Tannenbaum.
Aber was mich am meisten rührt, ist Jake, der vor mir kniet und eine kleine Dose in seinen Händen hält. Er öffnet sie und sagt: ,,Lindsey, seit ich dich kenne, denke ich Tag und Nacht nur noch an dich. Auch in der Arbeit kann ich mich nicht mehr konzentrieren und wenn wir in der Öffentlichkeit sind und dir jemand Fremdes hinterherschaut, werde ich sofort eifersüchtig und besitzergreifend. Deshalb frage ich dich: Willst du meine Frau werden?"
Ich habe gar nicht gemerkt, dass mir inzwischen die Tränen vor Rührung über das ganze Gesicht laufen, aber mein Herz pocht wie verrückt und die gerade noch im Winterschlaf liegenden Schmetterlinge flattern wieder munter in meinem Bauch herum.
Ich knie mich zu Jake herunter auf den Boden und sage: ,,Ja, ich will."
Wir küssen uns und plötzlich fangen im Hintergrund die Raketen an, zu explodieren. Es ist Neujahr.
Wir legen uns auf den zum Glück beheizten Boden, schweigen und schauen uns das Spektakel an.
,,Ein frohes neues Jahr." Ich schaue auf die Seite. ,,Ein frohes neues Jahr." Ich komme auf ihn zu und lehne mich über ihn, um ihn küssen zu können.

Was ich euch versprochen habe, konnte ich leider nicht einhalten. Ich habe gesagt, es geht in meinem Leben um keinen Typen, den ich kennenlerne und in den ich mich verliebe. Ich hoffe, ihr könnt mir das verzeihen und seid so glücklich wie ich. Vielleicht habt ihr ja auch einen Heiratsantrag bekommen, und wenn das so ist, dann wünsche ich nur einen herzlichen Glückwunsch. Aber an alle anderen: Ein frohes neues Jahr!



Just a model / #LightAward17 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt