1 - Gedächtnisverlust und ein seltsamer Junge

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Ich weiss nicht, wo ich bin.
Es ist dunkel.
Rabenschwarz, dass ich meine Hand nicht sehen kann. Ich spüre kalten Boden unter meinem Bauch. Mein Kopf dröhnt und mir ist schwindelig.
Ein kleines Licht flammt auf. Ich erkenne, dass es eine weisse Kerze ist. Die Flamme verteilt ihr oranges, warmes Licht in einen kleinen Raum. Eine Weile liege ich noch auf den kalten Fliesen und versuche mich zu orientieren, doch nichts erkenne ich wieder. Ich hebe meinen Kopf, um mich besser umzusehen.
Ein Junge lehnt an der gegenüberliegenden Wand. Ich habe ihn noch nie gesehen. Er hat ein markantes Gesicht, dunkelblondes Haar und dunkle Augen.
Er muss die Kerze angezündet haben, denn er hält eine Packung Streichhölzer in der Hand. Die weisse Kerze flackert vor seinem schwarzen Turnschuh.
Misstrauisch und ängstlich sehe ich mich um. Graue Wände und ein halbes Dutzend Taschen in einer Ecke gestapelt, sonst nichts.
„Wo bin ich", würge ich hervor. Ich habe das Gefühl, als ob meine Kehle zugeschnürt wäre. Als ob jemand eine Schnur um meinen Hals gelegt hätte und sie gewaltsam zudrückt.
„Wer bist du?", gibt er zurück. Im Gegensatz zu meiner Stimme klingt er nur misstrauisch und keineswegs ängstlich. Bei mir ist die Angst stärker, als das Misstrauen. Eine Weile sage ich nichts, sondern mustere ihn nur. Ich versuche, ihn einzuschätzen, aber in meinem Gehirn ist eine Blockade, dass ich (ausser meiner Angst) nichts registriere.
„Cassandra", sage ich schliesslich und setze mich auf. „Du?" Ich zwinge mein Gehirn nachzudenken und vernünftig zu werden.
„Cale", sagt er, immer noch misstrauisch.
„Wo sind wir?" Meine Stimme klingt schon ruhiger, obwohl ich geradezu in Panik verfalle. Mein Herz rast und mein Atem geht zu schnell, aber ich kann es nicht ändern, so sehr ich es auch versuche.
Zum ersten Mal scheint Cale sich umzusehen. „Ich weiss es nicht", sagte er, nachdem er den Raum studiert hat.
"Wie sind wir überhaupt hier reingekommen?", denke ich und erschrecke dann, als mir etwas klar wird. „Ich... ich kann mich nicht erinnern!" Ich versuche nicht zu hyperventilieren und berühre mit meiner rechten, kalten Hand meine warme Stirn. „Nichts von den letzten 24 Stunden und auch sonst ist eine Menge weg!" In meinen Augen ist Entsetzen, Verwirrung und noch mehr Angst.
Er runzelt die Stirn.
„Du schon?", frage ich überrascht. Er zuckt mit den Schultern.
„Doch, aber auch nicht an alles." Also erinnert er sich an etwas. Vielleicht an etwas, was uns in dieser Lage helfen könnte. Mein Verstand arbeitet schon besser.
„Was meinst du? An was kannst du dich erinnern?" Er schaut in die kleine Flamme der Kerze und schweigt.
„Wie sind wir hier gelandet?", versuche ich etwas aus ihm raus zu locken. Wieder zuckt er mit den Schultern. Er ist sehr verschlossen, aber das hilft uns jetzt nicht weiter. Der Ärger kroch in mir hoch, dicht gefolgt von der Verzweiflung.
„Hör mal, ich weiss nicht, wer du bist, oder was du hier machst und eigentlich ist mir das egal! Aber ich weiss nichts mehr und ich will hier raus, okay? Also wenn du irgendetwas weisst, dann sag es mir!" Ich funkle ihn an. Sein Blick wandert von der Flamme zu mir. Für einige Sekunden herrscht Stille und er sieht mich nur misstrauisch an. Es ist als würde er meine Seele sehen, so gefangen bin ich in seinem Blick. Ich fühle mich unwohl, aber ich halte seinen Blick stand.
„Ich weiss nicht, wie wir hier reingekommen sind, oder was wir hier machen!" Es ist der längste Satz, den ich bis jetzt von ihm gehört habe.
"Wie lange bist du schon hier?", frage ich.
„Ein paar Tage", erwidert Cale knapp. Als ich mich zu der Wand gegenüber von Cale begebe, merke ich ein Gewicht an meiner Hüfte. Ich hebe mein schwarzes Shirt hoch. Es ist ein Gürtel mit Inhalt. Von der Überraschung und Neugier abgelenkt, vergesse ich vollkommen meine Angst.

An dem braunen, Ledergurt sind Messer in verschiedenen Grössen eingesteckt. Als ich sie zähle, komme ich auf zehn; fünf links und fünf rechts. Ich frage mich, wie ich zu diesen Waffen komme. Ich ziehe eines heraus und prüfe sie sorgfältig.
Mein Gehirn sagt mir, dass das Wurfmesser sind. Sie haben silberne, scharfe Klingen, mit einem schwarzen Muster am Griff.
Ohne zu überlegen, halte ich das Messer an der Klinge fest und werfe es in die Ecke mit den Taschen. Die Klinge bohrt sich tief in den Stoff. Cale sieht mich an, aber ich beachte ihn nicht, sondern gehe zum Messer und ziehe es heraus. In der Tasche hat es ein Loch hinterlassen und etwas Körniges rieselt heraus.
„Das", sagt Cale und ich zucke zusammen als ich seine Stimme höre. „War ziemlich gut" Trotz der lobenden Worte klingt seine Stimme etwas desinteressiert. Ich drehe mich um und sehe ihn an. Cale sitzt immer noch in der gleichen Position da, doch dieses Mal sieht er die Tasche, das Messer und dann mich an. Seine Miene ist immer noch unergründlich. Dann heben sich seine Mundwinkel und ich sehe ihn zum ersten Mal lächeln.
Er steht auf und holt etwas hinter dem Berg der Taschen hervor. Mir stockt der Atem, als ich es sehe. Ein Schwert mit glänzender, silberner Klinge und schwarzem Griff. Er schwingt es ein paar Mal, dass ich ein paar Schritte zurückmache, um auch ja nicht getroffen zu werden.
"Schickes Teil, was?", sagt er. Irre ich mich, oder höre ich tatsächlich Stolz aus seiner Stimme heraus? Er stellt das Schwert an die Wand und sieht mich an.
"Weisst du, wie alt du bist?" Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet, sie kommt ausserdem so plötzlich. Ich muss überlegen und zwinge mein Gehirn sich daran zu erinnern.
„Sechzehn", sage ich, obwohl ich eigentlich nicht die geringste Ahnung habe. „Du?" Ich nicke ihm zu.
„Siebzehn", antwortet er. „Als du das Messer in der Hand hattest, wusstest du gleich, wie man es wirft?"
Diese Frage überrascht mich eher weniger, schliesslich ist das eine berechtigte Frage. Wie viele können schon von sich behaupten, zu wissen, wie man ein Messer wirft? Dazu kommt noch, dass ich es mit einem verlorenen Gedächtnis geworfen habe.
„Ich... ich habe einfach das getan, was mein Instinkt mir gesagt hat", antworte ich wahrheitsgemäss.
Cale nickt. „Dann konntest du es schon vorher."
Ich sehe ihn überrascht an. „Wieso bist du plötzlich so offen?"
Er betrachtet das Schwert und zuckt mit den Schultern. „Ich schätze, wir sind jetzt so was wie Verbündete", sagt er schlicht.
„Aha."
Etwas Besseres fällt mir nicht ein.

Station 10 #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt