6 - Scherbenmeer

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Ich stehe vor einer Tür und lausche, was die „Professoren", wie sie sich nennen (ich nenne sie „Abschlächter"), diskutieren. „...Die nächste Aufgabe wird mit dem Element Luft in Verbindung gebracht, wodurch die Freiwilligen die Substanz in der Luft besiegen müssen." Das war eine Männerstimme. Die Stimme, die antwortet, war die Stimme der Frau, die ich zutiefst verabscheue: „Perfekt, sie werden auf ihre schwerste Prüfung bestens vorbereitet. Sie werden schon darauf kommen, dass der Schlüssel der Nebel ist!" Heisst also, um alles zu übersetzen: „Perfekt, wir werden nie erfahren, dass unser Tod nicht das Monster, sondern Nebel ist. Der Nebel ist das Lebenselixier des Monsters. Wie werden nicht auf den normalen Jäger, sondern auf den professionellen Kopfgeldjäger vorbereitet." Ich halte mir den Mund zu, damit ich nicht laut zu schimpfen beginne. Ich husche die hellen Gänge entlang, als Beck auftaucht. „Shadow, ich muss mit dir reden!", sagte er. Ich steuere neugierig auf ihn zu. „Kommst du mit nach draussen, es ist ziemlich warm hier drinnen", sagt er. Ich nicke und wir gingen auf die Terrasse. Wir setzen uns in eine Ecke, zwischen zwei grossen Kübeln mit anthrazitfarbenen Topfblumen drinnen. Sie verbreiten einen salzigen Duft, wie das Meer. Ich wette, dass die Blumen im Labor hergestellt wurden. Ich ziehe den Duft in mich auf. Der Geruch gibt mir das Gefühl am Strand zu sein. „Wir werden in Station 10 untergebracht, was hast du bisher herausgefunden?", reisst Beck mich aus meinen Strand-Träumen. Ich versuche zu denken, aber aus irgendeinem Grund geht es nicht, also schüttele den Kopf. „Nichts. Ihre Sicherheitsvorkehrungen sind strenger geworden." Das ist nicht mal eine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Ich habe schon etwas herausgefunden, aber ausser das Wort „Nebel", fällt mir nichts ein und ich weiss nicht, was ich damit anfangen soll. Beck nickt. Er sieht mich komisch an. „Was ist?", frage ich. Mir fällt auf, dass ich eine Weile überlegen muss, wie er heisst. Wieso fällt mir das Denken auf einmal so schwer? „Nichts", sagt er leise. Wir sehen uns weiter an. „Denk daran, wie er heisst", denke ich, aber es misslingt mir vollkommen. „Sorry, wie heisst du nochmal? Ich habe gerade eine Blockade im Gehirn", sage ich und lächle entschuldigend. Er grinst. „Beck. Und du bist...?" Er überlegt, aber auch ihm fällt es nicht ein. „Shadow", helfe ich ihm. Meinen eigenen Namen weiss ich noch, das ist schon mal ein gutes Zeichen. „Ah,... kenne ich dich von irgendwo her?" „Ich weiss es nicht", antworte ich. „Du bist schön", sagt er plötzlich. Mein Gefühl sagt mir, dass etwas nicht stimmt und dass ich ihn kenne, aber ich weiss nicht woher. Aber ich weiss, dass ich nicht schön bin. Trotzdem bekommen meine Wangen einen rosigen Schimmer. „Du auch", sage ich. Wir sehen uns weiter an. Unsere Gesichter nähern sich, bis wir uns küssen. Es ist ein sanfter Kuss. Bis mein Gefühl mir endlich erklärt, was nicht stimmt und ich mich vorsichtig löse. „Komm mit!", sage ich und zwinge mich zu lächeln, damit er keinen Verdacht schöpft. „Wieso?" Er lächelt zurück. Offensichtlich fasst er es nicht als Beleidigung auf, dass ich aufgehört habe. Ich stehe auf und ziehe ihn hoch. Die ganze Zeit über ist es so klar gewesen. Es sind die Blumen gewesen. Diese künstlichen, anthrazitfarbenen Topfblumen aus dem Labor. Als ich reingehe, kann ich wieder ungehindert denken, ohne dass ich das Gefühl habe, als ob etwas blockiert wäre. Bei Beck ist es anscheinend auch so. „Was ist passiert?" „Es waren die Blumen. Sie sind aus dem Labor. Ich nehme an, die lassen uns vergessen, oder zumindest nicht richtig denken." Ich werde rot, als ich daran denke, dass wir uns geküsst haben, schliesslich liebe ich Cale. Er wird ebenfalls rot. „Das muss unter uns bleiben. Das muss du mir versprechen!", sage ich schnell. Er nickt, obwohl ich sehe, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders ist. Wir verabschieden uns hastig und gehen in unsere Schlafzimmer...

Ein weiterer Schmerzenslaut entfährt mir, als Belle eine langgezogene, rote Scherbe aus meiner Seite herausfischt. Beck gibt mir einen schnellen, mitfühlenden Blick. Ich werde zurück in die Realität geworfen. „Der Nebel, es ist der Nebel!", sagt mein Gefühl. (Gut, dass mein Gefühl nie das Wesentlich aus den Augen verliert, in Gedanken bin ich nämlich immer noch bei den Blumen und dem Kuss.) „Ist der Nebel immer noch da?", frage ich Beck, mit tränenerstickter Stimme. „Ja. Aber du sollst jetzt nicht denken", antwortet er. „Gut, dann tu du es. Es ist das Element Luft-", beginne ich. „Beck, haben wir irgendwo Tücher, oder Ersatzkleider?", ergreift Belle das Wort. Ich lasse seine Hand los, damit er zum Stapel hasten kann. Er durchsucht sie eilig. „Nichts!", ruft er und rennt zum nächsten. Das Monster hat ein Auge auf ihn geworfen und greift ihn an. „Beck, pass auf!", will ich schreien, aber ich bringe nichts heraus, meine Kehle ist wie zugeschnürt.


Zum Glück gibt es Cale, der den Riesen angreift, um ihn von Beck abzulenken. Er muss mitbekommen haben, was Becks Aufgabe ist und hiebt auf das Monster ein. Avan und Domina greifen seine Beine an, während Ariadne, Cale und Don sich seine Fäuste vornehmen, die immer wieder auf die Kämpfenden hinuntersaust, um sie genauso zu verletzen, wie er mich verletzt hat, wenn nicht schlimmer. Beck hat inzwischen die Taschen durchsucht und rennt zum nächsten. Belle sieht ihn an und steht kampfbereit vor mir. Alle waren in irgendeiner Weise kampfbereit oder nützlich. Alle, ausser mir. Ich versuche mich abzulenken und denke nach, was nicht gerade ein Zuckerschlecken ist. Das Tor ist Element Luft und der Schlüssel dazu der Nebel. Es gibt also kein Monster, weil es keinen Nebel gibt. „Belle, es ist der Nebel!", sage ich. „Element Luft, verstehst du? Avan muss den Nebel kontrollieren und verschwinden lassen!" Belle dreht sich um und sieht mich verblüfft an. „Du meinst, wenn es keinen Nebel gibt, gibt es auch kein Monster? Aber was hat Avan damit zu tun? " „Er hat die Wirbel als Tattoo. Element Luft", keuche ich, denn alles schmerzt nur schon wenn ich atme. Sie begreift, was ich meine, sieht sich um und entdeckt, wen sie sucht. „Cale, komm schnell rüber!" Cale hört sie und stürmt zu ihr hin, als er mich sieht, stockt es ihm den Atem. „Was ist passiert?" Anscheinend hat er doch nicht so ganz mitbekommen, was passiert ist. „Nicht jetzt!", sagt Belle und spricht hastig weiter. „Hör zu, du musst sie beschützen, ich muss schnell zu Avan!" Noch bevor Cale etwas sagen kann, ist Belle auch schon losgeflitzt. Cale sieht ihr verdutzt hinterher, dann wandert sein Blick zu mir. „Was ist passiert?", wiederholt er. „Sie hat einen Schlag von diesem Monster für Domina eingesteckt", antwortet Beck an meiner Stelle, der gerade zurückgekommen ist, in der Hand hält er einige Ersatzkleider. „Wo ist Belle?" „Sie sagte, ich solle hier sein und dann ist sie zu Avan gestürmt." Cale sieht mich komisch an. „Was ist?", frage ich. „Was hast du wieder zusammengereimt, Sherlock?" Ich weiss nicht, wer, oder was Sherlock ist, aber das zu fragen, wäre Zeitverschwendung. „Es ist das Element Luft. Avan muss den Nebel verschwinden lassen, damit das Monster verschwindet", erkläre ich und versuche keinen weiteren Schmerzenslaut von mir zu geben. Beck seufzt. „Ich hab dir gesagt, du sollst nicht denken", murmelt er und trotz des Schmerzes muss ich lächeln. Er tut so, als ob Ungehorsam mein grösstes Problem wäre. Cale sieht Beck an. „Bleibst du hier?" Er nickt. Cale wirft mir einen letzten besorgten Blick zu. Dann sprintet er los, denn Avan hat den Nebel noch nicht komplett verschwinden lassen, das schimmernde Monster greift ihn immer wieder an. Ich strecke wieder eine Hand aus und er ergreift sie. „Damit du wieder etwas zum Zerquetschen hast", scherzt er. Ich grinse. „Tut mir leid", sage ich. „Schon okay." Belle kommt angerannt. „Beck, wo-", beginnt Belle, doch er schneidet ihr das Wort ab. „Da!" Er zeigt auf den Haufen Kleider, der neben meinem Fuss lag. „Danke!" Sie schnappt sich ein T- Shirt und beginnt vorsichtig das Blut abzutupfen, denn meine Sachen sind komplett vollgesaugt. Obwohl Belle wirklich sehr vorsichtig ist, fühlt sich jeder Tupfer, wie ein Schlag an. Ich drücke Becks Hand zu und Tränen verschleiern meine Sicht, so dass ich nicht sehe, wie Beck die Zähne zusammenbeisst, um nicht zu schimpfen, denn ich bin mir sicher, dass ich sein Blut abschnüre. Aber der Schmerz zwingt mich an nichts anderes zu denken.

In der Zwischenzeit versucht Avan den Nebel zu kontrollieren. Er spürt den Nebel in der Luft, aber es ist als ob sie eine Sprache sprechen, die er nicht verstehen kann. Er konzentriert sich und stellt sich vor, dass der Nebel ihm zuhört. Er stellt sich vor, wie der Nebel um ihn herum tanzt, sich in der Luft kräuselt und seine Sprache lernt. Ein krachendes Splittern ertönt, als Don mit seinem Dreizack einen Finger des Glasriesen absticht, dass Avan zusammenzuckt.  Er zwingt sich, die Geräusche auszublenden und sich zu konzentrieren. Avan spürt, wie etwas Kühles seine Haut streift und merkt, dass der Nebel ihm gehorcht. Er sammelt den Nebel um sich, dass er in einen milchigen Ball gehüllt ist. Er kann die anderen nicht mehr sehen, aber er nimmt es als ein gutes Zeichen. Er befiehlt der grauen Masse sich zu verflüchtigen und sich in der Luft so zu verteilen, dass man ihn nicht mehr sehen kann. Er sieht, wie der Nebel in einem Wirbel nach oben steigt und sich in den feinen Ritzen der Mauern verschwindet. Kurz darauf prasseln die Scherben, wie ein Regenschauer zu Boden, doch noch bevor sie den Boden berührten, lösen sie sich auf und das Grauen ist vorüber. Avan hat es geschafft.


Station 10 #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt