Als ich mich abends auf meine Matte fallen lasse, bin ich so erschöpft, dass ich schnell einschlafe. Moon kennt jetzt unser Lager und gewöhnt sich nach und nach an unsere Situation. Wir haben viel miteinander geredet und wissen, dass wir den jeweilig anderen verstehen.
Es kommt mir vor, als hätte ich erst gerade meine Augen geschlossen, als Beck mich weckt, um Wache zu schieben. Leise stöhnend setze ich mich auf und laufe wenig später eine Runde.
Ein Gefühl des Beobachtens bohrt sich in meinen Rücken und dehnt sich unangenehm über den Rest meines Körpers aus.
Ich bleibe stehen und lausche.
Schritte sind zu hören, leise Schritte, als ob jemand schleichen würde.
Ich drehe mein Ohr in die Richtung und lächle, als ich den Gang erkenne.
„Denkst du wirklich, dass ich dich nicht bemerke?", sage ich leise und drehe mich grinsend um. Die Flamme der Kerze, die ich in der Hand halte, flackert ihre Schatten in mein Gesicht.
Ein paar Meter vor mir steht Cale und sieht mich an.
„Ich konnte nicht schlafen", sagt er. Er ist wirklich ein schlechter Lügner, ich höre ihm die Lüge leicht heraus. Aber abgesehen von einem kurzen Stirnrunzeln zeige ich kein Misstrauen oder Neugier.
„Wann hast du wieder Schicht?", frage ich.
„Morgen", antwortet er. Der seltsame Ausdruck in seinen Augen ist nicht verschwunden und ich frage mich, was wohl passiert ist.
„Schiebst du heute mit mir?", frage ich und lächle schüchtern. Er nickt und der Ausdruck lichtet sich, ist aber immer noch anwesend.
„Ist was?", frage ich deshalb und sehe ihn an. Er schüttelt den Kopf. So wortkarg habe ich ihn bei ihr unserer ersten Begegnung erlebt, aber seither nicht mehr.
Bis jetzt.Ich laufe zum Raum, der am weitesten von den anderen weg ist, dann drehe ich mich um und sehe ihm forschend ins Gesicht.
„Sag endlich, was los ist! So verschlossen warst du, als wir im selben Raum gelandet sind, danach nicht mehr. Also, spuck's aus!" Meine Reaktion musste ihn etwas überrascht haben, denn für einige Sekunden starrte er mich nur an.
„Nichts ist los", sagt er schliesslich. Ich rolle mit den Augen und stelle die Kerze auf den Boden.
„Schön, du willst nicht reden. Aber ich will." Er sieht mich erstaunt an. Ich warte nicht auf seine Antwort, sondern rede einfach darauf los, ohne auch nur über ein Wort nachzudenken.
„Ich weiss nicht, woher ich dich kenne. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Aber ich weiss, dass ich dich schon in einigen meiner Erinnerungen gesehen habe. Bei allen Erinnerungen wusste ich, was du fühltest und ich behaupte sogar, zu wissen, was du jetzt fühlst. Ich habe dich gesehen und ich mochte dich schon damals. Und jetzt sind wir alle hier und ich mag dich!"
Es gibt noch so vieles, was ich sagen möchte, aber ich komme nicht mehr dazu. Cale unterbricht mich. Aber nicht mit Worten, sondern mit Taten.
Erst lächelt er, dann küsst er mich.
„Halt endlich deine Klappe!", scherzt er leise und umarmt mich. Ich grinse und drücke ihn an mich. Die Anspannung weicht langsam von mir und ich fühle mich richtig geborgen. Meine Lippen streifen seine, bevor ich sie richtig erkundige. Durch den Kuss kann ich an nichts mehr denken.
Die Präsenz von Cale ist genau das, was ich gebraucht habe.Nachdem wir uns nach einer Weile gelöst haben, laufen wir zurück. Zuerst bemerke ich gar nicht, dass wir uns an den Händen halten, doch ich beschliesse es so zu lassen. Es hat etwas Beruhigendes an sich. Wir lehnen an einer Wand und reden über dieses und jenes. Bis ich meinen Kopf an seiner Schulter lehne und schliesslich einschlafe.
Cales Sicht
„Schlafmütze! Pennt die immer so schnell ein?", denke ich grinsend und muss schmunzeln. Darauf bedacht sie nicht zu wecken, hebe ich sie sanft auf und trage sie zu ihrer Matte. War ja klar, dass ich es nicht lassen kann über ihre weiche Wange zu streicheln. Ich kann mich erinnern, wie ich sich kennengelernt habe. Ich kann mich erinnern, was ich für sie gefühlt hat und was ich jetzt für sie fühle. Ich kann mich erinnern, was in Station 7 passiert ist:
Der Regen in Station 7 fällt in Strömen und die Temperatur sinkt schnell. Binnen Sekunden sind Becks, Belles und meine Kleider klatschnass und kleben an der Haut. Belles Zähne klappern und sie verschränkt die Arme um sich etwas zu wärmen. Die Bäume des riesigen Waldes bieten etwas Schutz vor den Tropfen, doch nass werden wir trotzdem. Vor der Kälte können wir jedoch überhaupt nicht fliehen. Ein animalischer Schrei ertönt in der Ferne und wir drehen uns in die Richtung aus der es gekommen ist.
„Wir müssen weiter", sagt Beck. Er schiebt uns durch das Geäst. Ich schaudere. Der Schrei erinnert mich an ein Kriegsgeheul. Wir wissen nicht, was genau, im Wald lauert, doch wissen wollen wir es auch nicht. Wir rennen zwischen den Bäumen, bis Belle stehen bleibt und sich an einen Baum abstützt. Sie ringt nach Luft.
„Pause", schnauft sie. Beck und ich bleiben ebenfalls keuchend stehen.
„Es wird... langsam... dunkel. Wir brauchen... einen Schlafplatz", keucht Beck.
„Okay, ihr... bleibt hier, ich sehe mich um", sage ich. Beck macht den Mund auf, um zu protestieren, aber Belle schneidet ihm das Wort ab.
„Gute Idee. Am Besten auf einem Baum, oder so. Ich möchte in dieser Nacht in Ruhe schlafen, ohne dass ich beinahe abgemurkst werde. Auf so was habe ich keine Lust."
Belle wäre einmal fast von einem anderen Mädchen erstochen worden. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf und wurde schon in der Zentrale ,Mad Mina' oder abgekürzt ,Maddi' genannt. Maddi hielte Belle für irgendein weiteres Biest im Wald. Mehr als blaue Flecken und einige Kratzer hat Belle zum Glück nicht ab bekommen. Leider war Mad Mina uns entwischt, aber immerhin hat sie eine beachtliche Wunde an der Seite, wo Belles Axt sie traf. Die Durchgeknallte liess sich nie wieder blicken. (Ich kann mich aber nicht mehr daran erinnern, wie sie aussah.)
Ich schlängelte mich durch das Geäst. Ich höre wieder den animalischen Schrei, doch was darauf folgt, lässt mir die Haare zu Berge stehen.
Es ist der angsterfüllte Schrei eines Mädchens. Sofort renne ich in die Richtung, aus der die Schreie kommen.
Dann sehe ich die Mutation.Es sieht aus, wie ein Tiger mit einem schwarz glänzenden Skorpionstachel. Allerdins doppelt und dreifach so gross, als eine normale Raubkatze! Auf dem Rücken sind zwei Dämonenflügel. Die geschätzten 30 Zentimeter langen Reisszähne sind kaum zu übersehen.
Ein paar Meter vor diesem Monster liegt ein Mädchen auf dem Boden, die immer weiter zurück kriecht. Anscheinend ist sie gestolpert. Ich kann ihr klopfendes Herz fast hören. Ihr Gesicht hat keine Farbe mehr, was mit ihren beinahe schwarzen Haaren, gespenstisch wirkt.
„Hey!", rufe ich.
Der Kopf des Viechs dreht sich in meine Richtung. Die rot glühenden Augen fixieren mich und mir wird bewusst, was genau ich gemacht habe. Seine Aufmerksamkeit liegt jetzt bei mir. Das Mädchen wirbelt herum, als sie meine Stimme hört und ihre Augen werden gross vor Überraschung.
„Bleib und rühr dich nicht vom Fleck!" rufe ich, bevor ich wegrenne.Der Atem des Monsters streift meinen Nacken und als er schreit, halte ich meine Ohren zu. Es war laut und schrill. „Beck! Belle!", schreie ich. Meine Lungen brennen, sie wollen eine Pause und einfach nur Luft bekommen. Das Ding schnappt nach meinem Rucksack und ich winde mich schnell heraus.
„Cale!", ruft Belle. Sie und Beck preschen durch das Unterholz auf mich und das Monster zu. Ich erhasche einen Blick auf sie und das ist ein Fehler. Ich stolpere über ein Pflanzengewirr und schon war das Biest über mir. Es schnappt nach meinem Hals, aber ich kann gerade noch ausweichen. Trotzdem merke ich, wie die rasiermesserscharfen Zähne meine Haut streifen.
Zum Glück gibt es Beck und Belle. Beck lenkt das Monster von mir ab, in dem sein Pfeil die Seite trifft. Das verunstaltete Monster lässt von mir ab und wendet sich Beck zu.
„Cale, duck dich!" Ich tue, was Belle sagt, verschränke meine Arme über meinen Kopf und kauere mich zusammen. Ein hässliches Geräusch erfüllt meine Ohren und etwas Flüssiges ergiesst sich mit einer Wucht über mich. Ich schaue auf und mir wird speiübel. Belles Axt hat den Kopf sauber vom Körper getrennt. Der Kopf rollt gerade davon. Doch ein Teil des grünen Blutes klebt an mir.
„Danke", sage ich mühsam und versuche mich nicht zu übergeben. Das ist so widerlich und ich bin froh, dass der Regen wenigstens einen kleinen Teil von dem Zeug abwäscht.
„Ich glaube, wir bleibe dort, wo wir auf dich gewartet haben", sagt Beck. Ich nicke.
„Ich muss nur noch meinen Rucksack holen, hab ihn unterwegs verloren. Stellt ihr schon mal alles bereit." Sie sehen mich besorgt an, als ich aufstehe und in die Richtung laufe, aus der ich gekommen bin.Das Mädchen fällt mir wieder ein und als ich meinen Rucksack erreiche, laufe ich weiter, bis zu dem Ort, wo das Mädchen ist.
Oder sein sollte.
Ich entdecke sie nicht.
„Bist du noch da?", rufe ich und komme mir irgendwie doof vor.
Ein leises Knacken ertönt und als ich mich schräg hinter mir schaue, steht sie direkt neben mir.
„Aaah! Verflucht, erschreck mich nicht so!", sage ich erschrocken und mache einen Satz zurück. Sie sagt nichts, sondern starrt nur auf das grüne Zeug an meinen Kleidern und die Wunde an meinem Hals. „Erklär ich dir später. Bist du allein?" Sie nickt.
„Ich habe niemanden mehr."
Niemand? Kein Wunder, dass sie so weiss ist und ständig um sich schaut.
„Wie heisst du?"
„Cassandra", antwortet sie. „Du?"
„Cale. Du kannst bei uns bleiben. Beck und Belle sind ganz okay", sage ich und strecke ihr eine Hand hin. „Wir können Verbündete sein." Sie sieht meine Hand an und überlegt. Dann schlägt sie ein und der Anflug eines Lächelns huscht über ihr Gesicht.
„Abgemacht."An dieser Stelle hört meine Erinnerung auf. Doch das Lächeln wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Jemand räuspert sich und ich zucke erschrocken zusammen.
„Du magst sie immer noch, was?", sagt Belle, die auf dem Bauch liegt und sich auf ihren Ellbogen abstützt. „Obwohl wir manches vergessen haben, haben sich deine Gefühle für sie nicht verändert, stimmt's?" Ich nicke und lächle.
Schlaues Mädchen.
„Wie lange bist du schon wach?" Sie grinst zurück.
„Lange genug!", sagt sie frech und fügt hinzu, „Sie mag dich auch, weisst du das?" Ich hebe den Blick und sieht Belle erstaunt und fragend an. Sie kichert.
„Cass hat mich gefragt, wie wir uns kennengelernt haben. Ich kann mich nur bruchstückhaft daran erinnern, aber als ich ihr gesagt habe, dass ich mich daran erinnere, wie ihr Turteltauben Händchen gehalten habt, sind ihre Wange knallrot geworden!"
„Echt?" „Genau das, hat sie mich auch gefragt. Aber ja, echt!" Belle gähnt. „Ich hau mich wieder aufs Ohr. Gute Nacht, du Herzensbrecher!" Sie dreht sich mit dem Gesicht zur Wand, um und schläft kurze Zeit später ein. Ich sehe Cassandra an und lächle dämlich vor mich hin.
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Station 10 #Wattys2016
Mystery / Thriller(Titel vorher: Lose - Verliere nie das Wesentliche aus den Augen!) Cassandra erwacht in einer seltsamen Anlage, ohne zu wissen, wer sie ist und woher sie kommt. Aber sie ist nicht alleine: Cale ist mir ihr in einem Raum. Erst nach und nach kehren ei...