#2 - Bastard

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Zuhause schmiss ich meine Schultasche in die Ecke und ging zu meiner Mutter, die schlafend über einer Zeichnung hing. Ihr Mund stand offen und ich hatte die Befürchtung, dass sie gleich das Bild vollsabbern würde, würde ich nicht eingreifen. Vorsichtig hob ich ihren Kopf ein wenig an und zog das Blatt Papier zu mir.
Besonders weit war sie noch nicht gekommen: Die Umrisse eines kantigen Gesichtes zeichneten sich auf dem hellen Papier ab und nur die Grundform des rechten Auges ließ darauf schließen, dass es sich tatsächlich um ein Gesicht handelte.
Sie zeichnete meinen Vater. Mal wieder. Fast jeden Tag, wenn er nach Hause kam, überraschte sie ihn mit einem neuem Kunstwerk seiner selbst. Das hatten wir Flynt-Frauen gemeinsam: Wir malten, was wir liebten.
Irgendwo unter meinen tausenden Maluntensilien und Zeichenblöcken musste noch ein kleines blaues Heft liegen – mit viel zu vielen Zeichnungen von Warren. Warren beim Schlafen, Warren bei seiner kleiner Schwester, Warren beim Lachen .. Oh Mann. Zwei Monate waren nun vergangen und ich bekam diesen Drecksack immer noch nicht aus dem Kopf. Eigentlich sollte ich doch längst über ihn hinweg sein.
Aus dem Wohnzimmer holte ich ein Kissen und legte es meiner Mutter unter den Kopf, dann nahm ich mir meinen Laptop und machte es mir auf dem Sofa bequem.

Ganze zwei Stunden lag ich auf der Couch und schaute Netflix, bis sich irgendwann unsere Haustüre öffnete und mein Vater laut rief: "Wo sind meine Lieblingsmenschen?"
"Hier", rief ich und konnte meiner Mutter zusehen, wie sie langsam aufwachte, meinen Vater sah und dann anfing zu strahlen. So hatte ich mir die Zukunft von Warren und mir auch vorgestellt. Warren .. Grr, er ist dir egal, Lora.
"Hallo mein Schatz", sagte mein Vater und küsste meine Mutter leidenschaftlich. Ich wollte nicht wissen, welchen Mundgeschmack meine Mutter nach ihrem Powernap hatte, aber es schien ihn nicht zu stören. Anderen war es vielleicht peinlich, den Eltern beim Küssen zuzusehen, doch ich hatte durch Warren mitbekommen, wie es war, eine zerrüttete Familie zu haben. Warren. Schon wieder er.
"Meine kleine Prinzessin." Mein Vater beugte sich zu mir hinunter und küsste mich auf die Stirn, dann drehte er sich wieder schwungvoll um und warf seine Aktentasche genauso wie ich in eine Ecke.
"Wie war dein erster Schultag?" Er knöpfte seinen Mantel auf und legte ihn über eine Stuhllehne, dann setzte er sich auf einen Sessel mir gegenüber.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Nackenkratzer-David zu erwähnen, ließ es dann aber bleiben. "War nichts besonderes. Ich habe mit Christy und ihrem Freund zu Mittag gegessen."
"Das ist doch das nette junge Mädchen von gegenüber, oder nicht?", wollte er wissen und nahm sich eine Banane aus unserer Obstschale.
"Genau. Die mit dem Hund." Ich klappte den Laptop zu. "Die Lehrer scheinen ganz in Ordnung zu sein, nur die eine spricht so leise, dass man sie kaum versteht. Und wie war dein erster Tag Herr Chef-einer-wichtigen-Firma?"
Mein Vater lachte leise und zog meine Mutter auf seinen Schoß, als sie sich zu uns setzte. "So viele neue Namen, das wird ganz schön schwer."
"Du schaffst das." Meine Mutter lehnte ihren Kopf an seine Brust und irgendwie musste ich an Nackenkratzer-David und sein eindeutiges Angebot denken. Wie viele Mädchen wohl auf seine Charme reinfielen? Der Meinung waren, dass sie ihren Badboy zähmen konnten?
"Lora?", überrascht sah ich, dass meine Eltern mich ansahen.
"Meine Ausstellung", erinnerte meine Mutter mich: "Vielleicht kannst du ja ein paar Plakate in der Schule aufhängen, um Kunstinteressierte anzulocken."
Meine Mutter verdiente ihren Lebensunterhalt als Künstlerin und hielt zweimal jährlich eine Ausstellung mit ihren schönsten Werken. Meine Lieblingstage im Jahr, dagegen kamen nicht mal Weihnachten und mein Geburtstag an.
"Klar", sagte ich und streckte mich noch einmal. "Ich setze mich dann mal an meine Algebra-Hausaufgaben."

Schon nachdem ich mir die Aufgabenstellung durchgelesen hatte, ließ ich mein Buch auf das Bett fallen und starrte gegen die Decke. Eigentlich hatte ich das gesamte Dachgeschoss für mich, aber im hinteren Teil meines Zimmers sammelten sich alte Staffeleien meiner Mutter, lose Blätter, ganze Blöcke und tausende Stifte und Farben. Ich sollte wohl besser für Ordnung sorgen, bevor meine Mutter das Chaos sah.
Sollte ich. Stattdessen blieb ich einfach liegen und starrte gegen die Decke, bis mir meine Augen wie von selbst zufielen.

Die Anonymen Badboy OpferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt