6. Kapitel

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Die Ereignisse überschlugen sich, es gab keinen Ausweg. Zuerst war Bran gestürzt, beim Klettern, auf unerklärliche Weise. Niemals hatte ich ihn unsicher an dem Gestein der Türme und an den Wällen entlanghangeln sehen, doch er war gefallen, und nun lag er im Koma und niemand wusste, ob er je wieder erwachen würde. Mutter war in Trauer, wie wir alle es waren. Sie hatte sein Zimmer nicht mehr verlassen, seit man ihn dort hineingebracht hatte. Ihre Verzweiflung und Angst wurde mehr davon getränkt, als es hieß, dass Lord Stark nach Königsmund musste, da er dort als die Rechte Hand des Königs herrschen solle, und mit ihm sollten seine Töchter kommen - Sansa, Arya und ich.
Kurz vor unserer Abreise kam Jon in mein Zimmer. Seit dem Gespräch in der Brücke hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen, und nun stand er da, vor meiner Tür, und sah mich an.
»Was ist?«, fragte ich ihn, ohne aufzusehen. Ich legte meine Kleider in die Truhe und andere Kleidungsstücke, die ich gebrauchen könnte. Ylenia lag neben dem Bett auf dem steinigen Boden und ließ keine Geräusche von sich.
»Ich wollte mich nur verabschieden«, antwortete der Junge leise.
Ich wandte mich ihm zu und sah ihn entgeistert an. »Wohin gehst du?«
»Ich reise mit Onkel Benjen zur Mauer. Ich will mich der Nachtwache anschließen«, erklärte er. »Ich werde das Schwarz anlegen.«
Ich stockte. Ich war fassungslos. »Jon -«
»Sag nichts. Es war eine schwere Entscheidung, aber die beste, die ich jemals treffen konnte. Was hab' ich denn zu verlieren? Du gehst mit Vater, Arya und Sansa nach Königsmund. Robb ist dann Lord von Winterfell. Bran liegt im Sterben, Sienna. Also sag' mir: Was habe ich zu verlieren?«
»Uns«, brachte ich leise, aber bestimmt hervor. »Weißt du nicht, was man sich über die Nachtwache erzählt? Man bindet sich an einen Eid. An einen Eid, der, wenn man ihn bricht, den Tod bringt – und man kann ihn schneller brechen, als einem lieb ist. Einem werden alle Titel und jeglicher Besitz genommen. Wir sind dann nichts weiter als Namen. Die Starks werden nur ein einfaches Adelshaus für dich sein. Du darfst nicht heiraten, keine Kinder haben. Wir werden uns wahrscheinlich nie wieder sehen, denn wenn du nicht als Deserteur stirbst, weil dich diese Lebensform in den Wahnsinn treibt, dann wird dich die Kälte holen und das, was der Winter mit sich bringt.«
Jon lachte. »Du hast viel zu oft die Geschichten der Alten Nan gehört.« Als ich das Lachen nicht erwiderte, wurde er ernst, und er schüttelte den Kopf. »Nein, ihr werdet für mich immer meine Geschwister sein. Komm her.«
Ich fiel meinem großen Bruder in die Arme. Er legte sein Kinn auf mein Haar und strich mir mit der Hand über den Rücken.
»Ich werde euch nie vergessen.«
»Wir werden dich auch nie vergessen, Jon«, flüsterte ich und umarmte ihn fester.

Winterfell verschwand im morgendlichen Nebel, und die Burg wurde immer kleiner, so dass ich mit jedem Schritt immer mehr Heimweh bekam. Robert Baratheon ritt voran, das Gefolge hinterher. Sansa und Arya saßen in einer Kutsche, die Königin, Prinzessin Myrcella und Prinz Tommen in einer anderen.
Ich hatte mich für ein Pferd entschieden und ritt nun neben Vater, Jon und Onkel Benjen den Königsweg entlang. Nicht lange und wir kamen an eine Abzweigung, an welcher wir uns von Benjen und meinem Halbbruder trennen würden. Die Reihen hielten nicht an, doch Lord Stark ließ sich davon nicht abhalten, noch einige Worte mit seinem Sohn zu wechseln. Ich stand einige Meter entfernt - es stand mir nicht zu, dem Gespräch zu lauschen - und wartete. Gerade als Jon davonreiten wollte, holte ich jedoch im Trab auf.
»Lebe wohl, Jon Schnee«, verabschiedete ich mich. »Mögen unsere Wege sich einmal kreuzen.«
»Mögen wir es hoffen«, sagte Jon und nickte mir zu. »Auf Wiedersehen, M'lady!«
Er hatte mich immer so zum Spaß genannt und es schmerzte sehr zu wissen, das das letzte Mal von ihm gehört zu haben.
»Komm, Sienna!«, sagte mein Vater und wendete sein Pferd. Er trieb es an und galoppierte dem Tross hinterher. Noch kurz lagen meine Blicke auf Jon, Benjen und Tyrion Lennister, der mit seiner Leibgarde ebenfalls zur Mauer wollte, dann riss ich mich los und folgte meinem Vater.

Vor acht Tagen hatten wir Winterfell verlassen und ritten weiterhin den Königsweg entlang, ohne dass die Hauptstadt, Königsmund, näherkommen zu schien. Das Tempo konnte man keineswegs schnell nennen, denn so langsam wie wir uns fortbewegten, würde es noch Wochen dauern, bis wir in Königsmund ankommen würden.
Lord Stark war an dem heutigen Morgen mit dem König auf die Jagd gegangen - uns hatte er natürlich zurückgelassen, in einer Burg, welche ein wenig an Winterfell erinnerte. Der Gedanke an mein Zuhause hinterließ einen kurzen Stich in meinem Herzen, doch das Heimweh verschwand, als Ylenia auf mich zugelaufen kam. Wir hatten die Wölfe mitnehmen dürfen, was die Septa mit Missbilligung aufnahm.
Ich saß in meinem Zimmer und las ein Buch. Ich musste den Raum mit Sansa und Arya teilen, was meine dreizehnjährige Schwester selbstverständlich störte. Ich jedoch ignorierte ihre unnötigen Bemerkungen stets und ihr absurdes Verhalten - im Gegensatz zu Arya, die wie immer ihre Meinung laut aussprach.
Ylenia fiepte und ich sah von den schwarzen Buchstaben, die mich schon so oft in den Bann gezogen hatten, auf. »Was ist?«
Der Wolf legte den Kopf schief, setzte sich auf und sprang auf das Bett, welches am Fenster stand. Ich schlug das Buch zu und erhob mich. Ich folgte dem Blick des Schattenwolfes hinaus und sah, wie Sansa Ladys Leine auf den Boden legte und das Tier alleine zurückließ. Sie lief mit Prinz Joffrey umher und bald war sie aus meinem Sichtfeld verschwunden.
»Ihr geht es gut«, sagte ich an Ylenia gewandt und ließ mich ohne Weiteres wieder auf meinen Platz zurücksinken. Ich widmete mich wieder meinem Buch und versank sofort in Gedanken, als auf einmal meine Wölfin vom Bett sprang und in den Saum meines Kleides biss.
»Ylenia, was ist denn?«, fragte ich mit einem genervten Unterton.
Der Schattenwolf zog an dem Stoff und bevor er zerriss, erhob ich mich hastig. Ich seufzte und legte das Buch beiseite, und Ylenia ließ von mir ab, öffnete die Tür, die einen Spalt offen gestanden hatte, mit der Schnauze und rannte hinaus. Ich folgte ihr zügigen Schrittes.
Draußen stürmte Ylenia in die Richtung des Flusses. Ich musste meinen Rock raffen, um schneller voranzukommen. Alle sahen sich kurz nach mir um, doch ich schenkte ihnen keinerlei Beachtung.
Irgendwas wird sie schon haben, dachte ich, und als das Rauschen in meinen Ohren erklang, zügelte ich mein Tempo.
»Ylenia!«, rief ich, da ich die Wölfin nicht mehr sah.
»Hört auf, nicht, hört auf!«, hörte ich plötzlich Sansa schreien.
Ich rannte los und bald stand ich neben ihr. Vor mir erstreckte sich eine Grasfläche. Der Fluss rauschte mit großen Wogen etwas abseits. Ich erblickte Joffrey, wie er Arya mit seinem Schwert hinterherjagte. Er war außer sich vor Wut und brüllte unaufhörlich.
»Sienna, mach, dass es aufhört!«, rief Sansa voller Angst, doch bevor ich einschreiten konnte, blitzte graues Fell auf – Nymeria. Sie sprang hoch und biss Joffrey ins Handgelenk. Diesem fiel die Klinge aus der Hand und er stürzte zu Boden. Er schrie wie ein Kleinkind, so dass einem die Ohren schmerzten, und wir alle standen da, niemand schritt ein, denn wir waren zu schockiert.
»Nymeria!«, rief Arya endlich und ihre Wölfin ließ augenblicklich von dem Prinzen ab. »Sie hat dich nicht verletzt ... nicht sehr.« Sie hob Joffreys Schwert hoch, musterte es und warf es dann in den Fluss. Es klatschte beim Aufprall und das Wasser spritzte an dieser Stelle. Sofort rannte meine kleine Schwester mit ihrem Schattenwolf davon, so dass ich sie bald nicht mehr sah.
Joffrey lag mit einer blutenden Hand am Boden, die er mit der anderen unter Schmerzen hielt.
»Oh, mein Prinz, mein armer Prinz!«, schluchzte Sansa. Sie ging zu Joffrey und kniete sich neben ihn. »Keine Angst. Ich renne zurück und hole Hilfe.«
»Dann geh!«, herrschte Joffrey sie an. »Und fass mich nicht an!«

Winter is coming || Game of Thrones Staffel 1-2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt