16. Kapitel

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Unzählige Tage ritten wir durch die Königslande, immer in Richtung Norden. Seit Königsmund hatte ich nicht mehr gesprochen. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es war, zu sprechen.
Nach Wochen hielten wir in der Nähe eines kleines Bächleins. Arya war in die Büsche gegangen. Kurze Zeit später kam sie zurück und ich atmete erleichtert auf, denn jedes Mal wenn sie aus meinem Sichtfeld verschwand, hatte ich Angst, dass ihr etwas zustieß.
Irgendwo knackte es und ich sah mich erschrocken um, ebenso wie Arya.
»Hat Arry etwa Angst?«, erklang Lommys hämische Stimme, ein kleiner schmächtiger Junge mit einer großen Klappe. Einige lachten, darunter Heiße Pastete, ein dicker, kleiner Junge, der mit seiner Mutter als Bäcker gearbeitet hatte, bevor sie verstarb.
»Hab ich nicht!«, rief meine Schwester aufgebracht.
»Lasst sie in Ruhe!«, ging Gendry sauer dazwischen und scheuchte die Jungen mit wilden Handbewegungen davon. Er und Arya standen nicht weit entfernt von mir und deswegen vernahm ich auch das, was er sagte. »Du bist tapferer als die anderen. Auch wenn du ein Mädchen bist.«
Arya stockte und starrte ihn an. »Ich bin kein Mädchen!«
»Doch, das bist du«, beharrte Gendry. »Glaubst du, ich wäre genauso dumm wie die anderen?«
»Nein, du bist noch viel dümmer. Die Nachtwache nimmt keine Mädchen auf.«
»Stimmt. Mir ist zwar auch schleierhaft, wieso Yoren dich mitgenommen hat, aber er hat sicherlich einen Grund gehabt. Trotzdem bist du ein Mädchen.«
»Bin ich nicht!«
»Dann hol deinen Pimmel raus und piss. Na los!«
Bei dieser Aussage hätte ich beinahe schallend zu lachen angefangen, doch glücklicherweise konnte ich mich noch zurückhalten.
»Ich muss gerade nicht pissen. Wenn ich wollte, könnte ich aber.«
Arya, du hast haushoch verloren, schoss es mir durch den Kopf, und ich musste schmunzeln.
»Lügner. Du kannst deinen Pimmel nicht rausholen, weil du keinen hast.«
»Doch«, sagte Arya. »Die Goldröcke bei dem Gasthaus, die waren hinter dir her, und du hast uns nicht verraten. Warum?«
»Ich wünschte, ich hätte selbst eine Ahnung. Yoren wusste es, aber er hat es mir nicht erzählt. Warum, glaubst du, haben sie mich gejagt?«
Arya schwieg. »Ich verrate dir mein Geheimnis, wenn du mir deines anvertraust ...«, sagte sie vorsichtig.
»Ich wollte, ich wüsste es, Arry ... heißt du wirklich so, oder hast du einen richtigen Mädchennamen?«
»Lommy und Heiße Pastete dürfen es nicht erfahren«, flüsterte meine Schwester so laut, dass ich es noch hören konnte.
»Werden sie nicht. Nicht von mir«, versprach Gendry.
»Arya.« Sie sah ihn mit fester Miene an. »Ich heiße Arya. Aus dem Hause Stark.«
»Aus dem Hause ...« Erst jetzt schien der Junge es zu verstehen. »Des Königs Hand hieß Stark. Den sie als Hochverräter hingerichtet haben.«
Mein Herz schmerzte bei dem Gedanken. Tränen stiegen mir in die Augen. Nicht hier, ermahnte ich mich.
»Er war kein Hochverräter. Er war mein Vater.«
»Deshalb hast du also gedacht ...«
»Yoren wollte mich nach Winterfell bringen.«
»Wenn ... du hochgeboren bist ... äh ... dann seid ihr ja eine Lady.«
»Meine Mutter ist eine Lady, meine Schwestern, Sienna und Sansa, auch, aber ich war niemals eine.«
»Doch, wart Ihr. Ihr wart die Tochter eines Lords, und Ihr habt in einer Burg gelebt, nicht wahr? Und Ihr ... bei den guten Göttern, ich habe nie ...« Er errötete vor Scham. »Das mit dem Pimmel, das hätte ich nicht sagen sollen, und gepisst habe ich auch vor Euch. Ich ... ich bitte um Verzeihung, M'lady.« Sofort kniete er vor ihr nieder und mein Grinsen wurde breiter.
»Hör auf damit!«, herrschte Arya ihn an. »Wenn du meine Schwester siehst, knie vor ihr nieder, aber nicht vor mir!"«
»Welche Schwester?«, meinte Gendry amüsiert und erhob sich.
»Sansa würde sich wahrscheinlich mehr freuen, aber sie liebt ja Joffrey.« Sie sprach den Namen mit solchem Hass aus, einem Hass, der berechtigt und echt war.
Ich erhob mich und lief tiefer in den Wald. Ab und an, nachts, wenn die anderen schliefen, entfernte ich mich von ihnen. Um zu beten, um Ruhe zu haben - jedes Mal war es etwas anderes. Ich lief langsam zwischen den Stämmen umher und sobald sah ich etwas Weißes aufblitzen. Rot wie Blut wehten die Blätter im Wind und zielstrebig schritt ich darauf zu.
Ein Wehrholzbaum. Es war ein wahrer Zufall, dass hier einer war, und da ich, genau wie mein Vater, die Alten Götter - und manchmal auch die Neuen - anbetete, kniete ich mich vor ihn und legte die Hände ineinander.
»Was tut Ihr da?«, erklang auf einmal eine Stimme in meinem Rücken und ich erhob mich abrupt.
Mit einem erstarrten Gesicht wandte ich mich Gendry zu. In seinem Gesicht, sein Mund umrahmt von einem hellbraunen Bart, ein helleres Braun als seine Haare es waren, erstrahlten seine hellblauen Augen, die mich misstrauisch musterten. »Wer seid Ihr?«
Ich schwieg. Auch wenn Arya ihm vertraute, konnte ich ihm nicht erzählen, wer ich war.
»Habt Ihr Eure Zunge verschluckt? Wieso versteckt Ihr Euer Gesicht hinter einem Stofffetzen? Seid Ihr so hässlich, dass man es nicht ertragen würde, Euch zu sehen?"
Er trat einen Schritt auf mich zu und ich einen zurück. Da ergriff er meine Hand und zog mir den Handschuh aus, dadurch, dass ich zurückgegangen war. Er sah meine entblößte Haut an und starrte mich an.
»Ich glaube kaum, dass ich hässlich bin«, sagte ich mit heiser Stimme, da ich so lange nicht mehr gesprochen hatte, und griff mit meinen Händen links und rechts an die Kapuze. »Gendry, Schmiedejunge aus Königsmund.« Schnell zog ich den Stoff von meinem Kopf und ließ mein Gesicht erkennen.
»Ihr ... Ihr seid ein ... Mädchen ...«, stammelte der Junge. Während er es bei meiner Schwester gewusst hatte, war es bei mir eine vollkommene Überraschung.
»Ich bin nicht das einzige Mädchen, welches Ihr heute zu Gesicht bekommen habt, richtig?« Ich zog an dem Band, welches meinen Umhang zusammenhielt, und dieser rutschte nun zu Boden. »Ja, ich bin ein Mädchen. Genau wie Arya.«
Sein Blick fiel auf meine Halskette. »Das ist feinste Schmiedearbeit«, sagte er und deutete darauf. »Ihr seid ebenso eine Lady wie Arya. Ihr seid ... Sienna? Lady Sienna?«
Ich nickte knapp und augenblicklich sank er vor mir auf die Knie.
»Vergebt mir, M'lady! Ich bin so ein dummer Idiot. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Ich nannte Euch hässlich und -«
»Erhebt Euch.« Ich berührte Gendry sanft an der Schulter. »Niemand sollte vor mir im Dreck knien.«
Er erhob sich glücklicherweise. »Ihr solltet mich nicht so ansprechen. Ich bin nicht hochgeboren.«
»Dann solltet Ihr mich auch nicht so ansprechen«, sagte ich.
»Aber Ihr seid hochgeboren!«, meinte Gendry. »Ihr seid eine Lady!«
»Was bringen mir Adelstitel in dieser Zeit? Trotz solcher macht man Jagd auf mich und Arya, tötete man meinen Vater, hält man meine Schwester fest. Namen sind nichts. Sie schützen uns nicht. Ich habe kein besseres Leben damit.«
»Ihr könnt in einer Burg leben, habt das beste Essen, tragt die besten Kleider. Euer Leben ist weitaus besser als meines oder das Leben der anderen.«
»Und doch stehe ich vor Euch, oder?«, gab ich zurück. »Ich stehe vor Euch, das Gesicht zuvor verdeckt, damit mich niemand erkennt. Wir haben Kleider, Essen und eine Burg, und dennoch schützt das mich und meine Familie nicht.«
Gendry schwieg und sah mich aus seinen blauen Augen an. »Warum habt Ihr es nicht Eurer Schwester erzählt? Dass Ihr es seid. Warum habt Ihr Euch versteckt?«, fragte er mich schließlich.
»Wenn ich es Arya erzählt hätte, wären wir aufgeflogen. Wir wären einfachere Beute als wir es jetzt schon sind.« Ich fuhr mit meinem Fingern über meine Kette. »Ihr dürft es Ihr nicht erzählen. Mein Vertrauen habt nur Ihr, weil meine Schwester Euch vertraut. Missbraucht es nicht.« Ich hob den Umhang auf, zog mir wieder die Kapuze ins Gesicht und schritt an Gendry vorbei.
»Werd' ich nicht«, schwor er und ich blieb mit dem Rücken zu ihm stehen. Seine Aussage zauberte mir auf irgendeine Weise ein Lächeln ins Gesicht. Ich schüttelte nur leicht den Kopf, als ob es verschwinden könnte, und ging dann davon.

Winter is coming || Game of Thrones Staffel 1-2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt