SIX

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»JANCI« Diese rettenden Worte. Endlich, ich habe so auf sie gewartet. Sie holen mich aus meiner Verwirrung, reißen mich von meiner Angststarre wieder zurück ins Leben. Warme Hände legen sich auf meine Schultern und ich lockere mich aus meiner Verkrampfung. Langsam lösen sich meine kleinen Hände von der gelben Stange, an die sie sich bis eben noch geklammert haben. Der Schock steht mir jedoch immer noch ins Gesicht geschrieben und meine Augen sind auf das fürchterliche Geschehen vor mir gerichtet, welches nur in Zeitlupe vonstatten zu gehen scheint. Cyrian schlingt seine Arme um mich und zieht mich ein Stück von der Unfallstelle weg. Er drückt mich auf einen der gemusterten Bahnsitze und begutachtet meine Wunden.

Es hätte doch eigentlich ein wunderschöner Tag werden sollen. So ein Tag, den man nie mehr vergisst. Ich hatte mich an diesem Morgen extra schön angezogen. Ich hatte mir das hübsche Blümchenkleid übergeworfen, welches mir Mom letzte Woche von einer Firmenreise aus Irland mitgebracht hatte. Auch meine Haare hatte ich mir von Mom in zwei Zöpfe flechten lassen. Ich war so aufgeregt gewesen. Zappelnd hatte ich beim Frühstück gegessen und meinen Toast nur schwer runter bekommen. Und dann war auch schon Cyrian gekommen und mein Lächeln war so breit gewesen, dass mich seine Eltern erstmal ausgelacht hatten. Auch Cyrian hatte gestrahlt und ich hatte mir schnell meine blauen Ballerinas angezogen, damit wir sofort loskonnten. Während wir auf meine Eltern gewartet hatten, konnte ich natürlich nicht wiederstehen, ihn mal wieder aufzuziehen wegen seinem Mädchennamen.
»Cyrianne, du siehst heute wieder entzückend aus. Doch wo hast du dein süßes Kleid gelassen? Hosen gehören sich nicht für eine junge Dame, meine Liebe.«
»Ich bin ein harter Kerl, Jane! Das weißt du!«, hatte er geschmollt. Aber er hatte mir noch nie lange böse sein können und so waren wir, wieder lachend, zur Haltestelle vorgerannt und hatten die Arme zur Seite ausgestreckt, als könnten wir fliegen. Immer wieder war Cyrian hochgesprungen und hatte gerufen: »Sieh mal Jane, ich kann wirklich fliegen.« Mit leuchtenden Augen hatte ich seine Gestalt fasziniert verfolgt und war froh wie eh und je darüber gewesen, dass der fliegende Cyrian mein bester Freund war. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen jemals ohne ihn zu sein. Vor ein paar Monaten hatten wir uns sogar versprochen zu heiraten, damit wir für immer zusammen sein könnten.

Da unsere Eltern weit hinter uns waren, hatten wir beschlossen schon die frühere Straßenbahn zu nehmen. Ich hatte mich wie immer auf meinen Lieblingsplatz direkt hinter der Glasscheibe beim Ausgang gesetzt und Cyrian hatte sich auf der anderen Seite des schmalen Ganges niedergelassen. Die Worte waren nur so aus seinem Mund gesprudelt, als er mir von seinem Kaninchen erzählt hatte, welches seine Eltern ihm vor ein paar Tagen zum zehnten Geburtstag geschenkt hatten. Aufmerksam hatte ich jedem seiner Worte gelauscht und nebenbei die untergehende Sonne bestaunt, die hinter den Hausreihen langsam verschwunden war.

Und dann war es so weit. Der Schrecken fing an. Ein Mann, der mit seiner Bierflasche schwankend zwischen uns entlang gelaufen war. Er stellte sich etwas weiter vor uns hin und hatte unverständliches Zeug vor sich hin gelallt. Eingeschüchtert hatte ich mich tiefer in meinen Sitz gedrückt und vorsichtig zu Cyrian geschaut, der den betrunkenen Mann ebenfalls gemustert hatte. Wie hatte ich mir in diesem Moment gewünscht, meine Eltern wären ebenfalls mit uns in diese Bahn gestiegen. Die Bahn war durch das Dämmerlicht gesaust und eine unangenehme Gänsehaut hatte sich auf meinem Körper ausgebreitet. Dann hatten wir die vorletzte Station erreicht. Die Nächste wäre unsere gewesen. Die Straßenbahn hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und der Mann war leicht geschwankt. Am liebsten hätte ich nach Cyrians Hand gegriffen, doch ich wollte nicht, dass er von meinem Unbehagen etwas mitbekam. Ich hatte mich also gegen die kühle Fensterscheibe gelehnt und die Gleise vor uns betrachtet. Ich hatte gesehen, wie sich die Ampel vor uns rot färbte und die Bahn ruckartig gebremst hatte. Der Mann war ins Schwanken geraten, hatte mit den Armen in der Luft rumgefuchtelt, doch war schließlich gestolpert und gestürzt. Auf mich zu. Mit vollem Schwung war er auf die Glasscheibe gefallen, die uns beide voneinander getrennt hatte. Doch unter seinem Gewicht hatten sich unendlich viele Risse auf der Scheibe ausgebreitet und die abertausend Scherben schließlich auf mich hinabgeprasselt. Die umstehenden Fahrgäste, die bereits aufgestanden waren, um die Bahn gleich zu verlassen, waren herbeigeeilt, um dem Mann zu meinen Füßen zur Hilfe zu kommen. »Krankenwagen! Wir brauchen einen Krankenwagen!«, hatte einer von ihnen gerufen. Doch das hatte ich alles nur vage mitbekommen, denn mein Blick war auf den leblosen Mann gerichtet, in dessen Hinterkopf eine große Glasscherbe gesteckt hatte. Das Blut war aus der Wunde auf meinen Schuh getropft und hatte dunkelrote Striemen auf dem blauen Lack hinterlassen. Noch immer hatte der Mann sich nicht bewegt. Ich hatte am ganzen Leib gezittert und erst der heiße Bluttropfen, der von meiner Wange auf mein nagelneues Blümchenkleid getropft war, hatte mich zurück in das Geschehen gerissen. Langsam hatte ich mich erhoben und die Scherben, die auf mir lagen, waren zu Boden gefallen. Ich hatte entsetzt meine zerrissene Strumpfhose betrachtet, aus dessen Löchern das Blut lief. Doch schon hatte meine Aufmerksamkeit wieder dem Mann gegolten. Sein Nacken hatte direkt auf dem Fensterrahmen gelegen, wo ein paar Momente zuvor noch die Scheibe gewesen war. Erstickende Laute hatte er dann von sich gegeben, doch dann hatten mir die über ihm gebeugten Leute die Sicht auf ihn versperrt. Ich hatte die gelbe Stange ergriffen, da ich Angst hatte ebenfalls zu stürzen. Mein unaufhörlich zitternder Leib hatte mich fast zur Weißglut getrieben. »JANCI!« Diese rettenden Worte. Ich hatte so auf sie gewartet.

Cyrian sieht mich entsetzt an und einer der anwesenden Erwachsenen wischt das Blut von meiner Wange. Noch immer bekomme ich nichts von den Schmerzen in meinen Beinen mit, die an einigen Stellen unaufhörlich zu bluten scheinen.
»Es wird alles gut, Janci.«, wispert Cyrian mir zu, der sich wieder gefasst hatte und nimmt mich erneut in den Arm.

Ich schrecke auf. Mein T-Shirt klebt schweißgetränkt an meinem Körper und das Einzige an das ich denken kann, ist dieser Name. Cyrian. Er hatte mich damals beschützt, hatte dafür gesorgt, dass dieses Ereignis damals, keine bleibenden Schäden auf meiner Seele verursacht hatten. Wie hatte dieser Name nur in Vergessenheit geraten können? Ich hebe meine Hand und fahre mit dem Finger über die kleine Narbe, die auf meiner Wange zu glühen scheint. Ab diesem Abend war er mein Held. Cyrian, Cyrian Coleman.

Jane is aliveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt