Lysander #8

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Normalerweise war ich niemand, der jemanden die meiste Zeit ignorierte und auch noch die eigenen Einkäufe sowohl zahlen, als auch tragen ließ. Aber ich wollte ihn nicht sehen, nicht neben mir spüren, nicht mit ihm reden müssen. Wie konnte er so gut aussehen, sogar mit so einem albernen Hut, obwohl er bloß mit mir ausging, um zu wissen, wie es war mit einem Jungen auszugehen? Ich biss meine Zähne zusammen, als es anfing zu tröpfeln. Vereinzelte graue Wolken drifteten über den Himmel und ließen immer wieder einen Blick auf den gerade noch so blauen Himmel erhaschen. "Wir sind gleich da.", sagte er und ich nickte kurz. Etwas staute sich in meiner Brust an, das sich anfühlte wie der Drang zu schreien und zu weinen. Ich wusste nicht, was ich mir erhofft hatte von heute, aber nicht das. Dieses unangenehme Schweigen, der Ärger über mich, über ihn, über den Regen, über die ganze Welt. War das etwa Enttäusch, die sich dort gegen meine Haut presste und mich mich am liebsten auflösen lassen würde? Enttäuschung, obwohl ich nicht einmal wusste, was ich mir von heute erhofft hatte?
Wir kamen schneller in seiner Straße an, als ich erwartet hatte. Die Haustüren reihten sich aneinander, kleine Läden kauerten sich in die Untergeschosse mancher Gebäude, Nebenstraßen zogen sich quer zur größeren mit Kopfsteinpfalster ausgelegten Straße und junge Linden waren hier und da an einem am Bürgersteig angrenzenden Rondell gepflanzt worden. Trotz der Regentropfen, die die Steine unter meinen Füßen dunkler und rutschiger machten, hatte diese Straße die Ausstrahlung von all den Städten widerspiegelte zu denen ich so gerne noch reisen wollte und in denen ich mich so wohlfühlte. Er blieb vor der helltürkisenen Türe seines Hauses stehen und stellte die Tüten an die Wand daneben. Ich beobachtete ihn aufmerksam. Seine Bewegungen waren fließend und elegant, obwohl ich ihm das eigentlich gar nicht zugestehen wollte. Doch statt den Hausschlüssel aus seiner Hosentasche zu ziehen und aufzuschließen, machte er einen Schritt auf mich zu. Seine braunen Augen, die in dem wenigen Licht, das durch die Wolken drang dunkel und härter als sonst aussahen, sahen unverwandt in meine und ich ertastete die Wand aus Backsteinen mit meinen Fingerspitzen hinter mir. Doch mein Körper wollte gar nicht zurückweichen, als sich sein Arm um meinen Rücken schlang, genau zwischen Po und Rippen. Ich spürte ihn durch das T-Shirt durch, die Wärme, seine Muskeln, wie er mich an sich zog und auch das Kribbeln, das sich von ihm aus über meine ganze Haut zog. Er zog mich nahe an sich und legte eine Hand an meine Wange, behutsam. Seine Finger schienen Flammen direkt unter meiner Haut zu säen. Überall wo seine Haut auf meine traf schienen sie vor Hitze miteinander zu verschmelzen. Er beugte sich sanft vor - spürte er das auch? -, seine Augen immer noch in meinen versengt, bevor er die Augen schloss, ich es ihm gleichtat und unsere Lippen sich trafen. Das erste das ich wahrnahm war der Geschmack nach Kaffee und Regen. Mein ganzer Körper fing Feuer. Wir waren keine unabhängigen Personen mehr. Wir verschmolzen zu einer anderen. Seine Finger hinterließen flammende Spuren, als er sie sanft unter mein Oberteil schob; meine Hände vergruben sich in seinen Haaren und die Regentropfen die darin wie Perlen gesessen hatten liefen meinen Arm herunter, aber obwohl sie eisig kalt waren konnten sie nicht das Feuer löschen. Er zog mich noch näher, soweit das ging und bewegte seine Lippen. Das hier hatte nichts mit dem ersten Kuss zu tun gehabt, der war dazu lächerlich unschuldig gewesen. Mein ganzer Körper schrie auf, als er sich von mir löste und ich öffnete atemlos meine Augen, bloß um direkt in seine zu sehen. Hatte er dasselbe gespürt? Lag es daran, dass ich noch nicht so oft geküsst hatte, dass mein Körper so schnell Flammen fing oder an ihm? "Gehen wir rein, sonst erkälten wir uns noch." Seine Stimme klang rau und er lächelte leicht. Seine Augen schienen zu strahlen. Ich bekam bloß ein Nicken zustande, bevor er den Arm um meine Hüfte löste und den Haustürschlüssel aus seiner Tasche zog. Am liebsten hätte ich etwas Bissiges gesagt oder ihm zu bedeuten gegeben, dass wir nur weil wir jetzt zu ihm rein gingen, keinen Sex haben mussten, aber irgendwie schien mein Gehirn sich zu weigern die Befehle an meine Lippen weiterzuleiten. Also folgte ich ihm bloß, als er die Türe aufgeschlossen hatte. Sobald man eintrat stand man in einem Flur in dem linkerhand eine knarrende Holztreppe hochführte, die er schon zwei Stufen auf einmal nehmend hochging. Gegenüber der Eingangstüre stand sein Fahrrad in einer kleinen Abstellkammer in der auch Putzsachen und ein paar Staffeleien standen. Ich zog die Türe hinter mir ins Schloss und folgte ihm die Treppen hoch. Meine Knie fühlten sich immer noch wackelig an und es schien, als sei die Materie meines Körpers nicht mehr so fest wie vor dem Kuss. Als ich eintrat und die zweite Türe am Kopf der Treppe hinter mir ins Schloss drückte, stand er schon an einem Esstisch, der sich linkerhand befand und lud die Einkäufe ab. "Ich lasse nicht oft jemanden hier rein.", begann er zu sprechen und wuschelte sich mit einem Küchentuch durch seine feuchten Haare. Aber ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Mit großen Augen sah ich mich in dem Raum um, in dem ich jetzt stand und der von einem Raum in den anderen zu fließen schien. Das Licht, das auf der Straße trist und grau gewesen war, schien durch die vielen kleinen Fenster, die sich an den Wänden aneinanderreihten wieder warm und honigfarben zu werden und durchflutete ihn. Die Holzdielen des Bodens waren stabil und hatten eine wunderschöne Struktur, die aussahen wie der Tanz von braunen Phasern, die sich miteinander verschlungen. Gegenüber von der Türe war mit einer komplizierten und aufwendigen Konstruktion ein schwerer Stoff in der Farbe von Rotwein an der Decke befestigt worden, sodass ein abgetrennter, quadratischer Raum in der Mitte des Zimmers entstand. Ich wagte es nicht hinter den dunkle Falten werfenden Stoff zu lugen, auch wenn mich die Neugierde lockte zu erkunden, was sich dahinter befand. Rechts davon, auf der dunkleren Seite des Raumes zogen sich zwei Wäscheleinen übereinander unter der Decke entlang, an der trocknende Kleidung neben Papierbögen hing. Die Waschmaschine befand gleich dahinter, wenn man es irgendwie schaffte ohne sich fesseln zu lassen durch die Wäscheleinen zu gelangen. Auf der linken, um einiges helleren Seite des Zimmers, stand neben dem Esstisch an dem die Stühle fehlten eine genauso provisorisch wirkende Konstruktion, wie die des Vorhangs die eine Arbeitsfläche bildete, die Spüle, einen Herd und Backofen, Abtropfgitter wie Hängeschränke bildete. Die Pastelltöne in denen sie gestrichen waren, grün, rot, gelb, alles vollkommen wahllos zusammengewürfelt, blätterte an manchen Stellen schon ab. an der längeren Wand, dort wo die Fenster begannen stand ein hüfthoher Schrank, in dem sich Koch- und Backbücher, Tontöpfe mit Kräutern und ein steinzeitlich aussehender einfacher CD-Player befanden. Die Stellen an den Wänden, die nicht aus Fenstern bestanden waren aus warm roten Backsteinen erbaut und hielten Querbalken in ihrer Position. Einer davon hielt ein Gerüst, das ein wenig an das Gerippe eines Tieres erinnerte und die Küche von einem Bett trennte, das in seiner Form beinahe ein Quadrat bildete. Über dem Kopfteil, das mit unzähligen Kissen vollgestopft war, die alle mit bunten Stoffen bezogen waren, hatte jemand Regalbretter angebracht in denen sich unglaublich viele Bücher aneinander reihte. Ich entdeckte auch CDs, Schallplatten und DVDs. Quentin Tarantino Filme, reihten sich an sämtliche Filme in denen Anne Hathaway jemals mitgespielt hatte -von Plötzlich Prinzessin bis Der Teufel trägt Prada. Foto- und Gartenbücher, Gedicht- und Zitatbände reihten sich an Fantasyromane, Philosophiebücher, Thriller und irgendwelche Schnulzen. Die sich aneinanderdrängenden Rücken von Filmen, Musikträgern und Büchern wurden bloß von ein paar vereinzelten Bücherständern und Blümchen unterbrochen. Auch wenn die Bretter mehr oder weniger gut befestigt waren, würde ich nicht allzu gerne in dem Bett darunter liegen. Zu groß schien die Gefahr, dass vielleicht doch alles herunterstürzen könnte. Die Bettdecke, die mindestens genauso bunt wie die Kissenüberzüge war, lag zerknittert über dem Bett, wobei sie über eine Ecke auf den Boden hing und Mia räckelte sich darauf. Gegenüber des Fußenendes. Hinter einer weiteren Trennwand aus Holzbalken sah man den Ansatz eines zusammengewürfelten Wohnzimmers, mit einem Couchtisch aus Weinkisten, einer Stereoanlage und einer Couch, über die ein pastellgrün weiß gestreiftes Tuch geworfen worden war. Weiter sah man nicht, da der Vorhang verbarg, was sich an das Wohnzimmer noch anschloss, aber die reine Tatsache, dass es noch weiter ging, ließ mich stutzen. Dieser Raum war größer als das gesamte erste Geschoss des Hauses in dem ich aufgewachsen war, in dem Küche und Wohnzimmer bei uns gelegen hatte und er hatte das alles für sich. Die Wohnung, die ich mir dereit auch noch teilte würde hier anderthalbmal reinpassen. Ich hatte e schon vor Jahren aufgegeben neidisch wegen Besitztümern zu sein, aber ich wusste, dass ich sehr viel dafür geben würde in solch einem Raum leben zu dürfen. "Willst du dich umziehen? Dir wird ja eiskalt." Ich schreckte aus meiner Bewunderung für den Raum und sah ihn an. Er grinste leicht und ich spürte wie meine Ohren heiß wurden. "Wäre vielleicht besser." Er nickte und verschwand in dem weiter hinten liegenden Teil des Raums. Ich blieb stehen und betrachtete die Unordnung um mich herum, die aber in dem Raum mit den hohen Decken dennoch mehr etwas Künstlerisches, als etwas Chaotisches zu bergen schien. Man erkannte so vier Details beim näheren Betrachten. Traumfänger, die im Gerippe der Balken sanft hin und her schwangen, das dunkelblaue Band, das um den Stamm eines Thymian Bäumchens gewunden war, all die überall herumliegenden Malutensilien. Sirius kam wieder zu dem Esstisch, zwei Stühle im Schlepptau und frische Kleider über dem Arm. Er hielt sie mir mit ausgestrecktem Arm entgegen und lächelte. Ich nahm sie ihm ab, peinlich genau darauf bedacht seine Haut nicht zu streifen. "Zieh dich hier um.", sagte er und zog mir den Vorhang beiseite. Es war ein Bad mitten im Zimmer! Ich versuchte mir meine Bewunderung nicht anmerken zu lassen und ging an ihm vorbei. Der Stoff schloss sich raschelnd hinter mir. Mitten in dem abgetrennten Bereich stand eine weiße Badewanne, mit Löwentatzen und Wasserhähnen aus Messing. Die Toilette und das Waschbecken passten nicht ganz zu der anmutigen Art der Wanne. Man erkannte hier, dass der Vorhang auch an ein paar der Balken befestigt war. Ich versuchte mich nicht zu genau umzusehen. Es kam mir irgendwie intim vor in seinem Bad zu stehen, zu wissen dass bloß Stoff uns voneinander trennte und mich umzuziehen. Ich beeilte mich und hängte meine nassen Sachen danach ungefragt an die Wäscheleine. Der Pullover und die Jogginghose waren zu groß, aber warm und trocken. Er grinste als ich heraustrat und er mich sah. Mittlerweile lagen alle unsere Einkäufe ausgebreitet auf dem Tisch. Es war mehr, als ich gedacht hatte und kurz durchzuckte mich ein schlechtes Gewissen, aber ich schob es beiseite. "Soll ich das alles verkochen?", fragte er mit einer belustigt hochgezogenen Augenbrauen, nachdem ich mich gesetzt hatte und er mir eine Tasse heißen Tee zugeschoben hatte. "Nein. Nimm was du brauchst." Er nickte und betrachtete die Zutaten. Ich betrachtete sein Gesicht. Seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen und seine Stirn kräuselte sich, in feine Falten gelegt. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich einen Augenblick lang an die David Statue. Aber ich wischte den Gedanken beiseite. Sein Gesicht hellte sich auf und es ging auf den hüfthohen Schrank zu, vor dem er in die Knie ging. Zuerst ging das Radio rauschend an, bis er einen Sender anstellte auf dem ein altes italienisches Lied von Peppino Gagliardi spielte. Danach schob er ein paar Kochbücher mit dem Unterarm achtlos zur Seite und zog ein Ringbuch dazwischen hervor, das vor Post-its, bunten reingelegten Bänden und Bildern überzuquellen drohte. Er schlug eine Seite auf, beinahe blatterte ein Notizzettel zu Boden, dann blätterte er mit einem verträumt aussehenden Lächeln in den leise raschelnden Seiten und legte es aufgeschlagen auf den Tisch, als er anscheinend gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. Ich betrachtete die Seite. Eine feinsäuberliche Schrift hatte in feinen, eckigen Buchstaben ein Rezept aufgeschrieben. Ein paar Sätze waren sorgfältig mit gelben Textmarker hervorgehoben, über andere war etwas mit Bleistift geschrieben worden und auf der rechten Seite befand sich eine sorfältige und liebevolle Zeichnung des Gerichts. Er fuhr mit dem Finger an den aufgelisteten Zutaten entlang, bevor er in der Küche herumlief, die Dinge wegstellte, die er nicht benötigte und sie dafür durch andere Zutaten ersetzte. Ich zog eins meiner Beine, schlang die Arme darum und schloss meine Tasse in beide Hände, ohne ihm meine Hilfe anzubieten. Meine Haare trockneten langsam, die Wärme des Tees breitete sich in meinem Körper aus, es war entspannend ihn in dieser Umgebung zu sehen und ich hatte gerade nicht das Bedürfnis irgendetwas an diser Situation zu ändern.

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Für dieses Kapitel habe ich etwas länger gebraucht, um sicherzustellen, dass es auch gut wird.
Ich hoffe wirklich die Beschreibung ist überschaubar und dennoch nicht zu gähnend ausführlich. Aber dass ich den Raum ganz genau im Kopf habe und das auch vermitteln will hat mir da etwas im Weg gestanden.
Ich hoffe es ist dennoch gut.

Curiosity and Fortune.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt