Kapitel 2

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  Mit einer Tüte stehe ich vor dem Pub und warte. Pünktlichkeit ist nicht seine größte Stärke.Vielleicht kommt er auch gar nicht, weil ihm einfiel, dass er auf das Hemd verzichten kann und noch genügend andere seiner Sorte im Schrank liegen. Für jedes alte Kleidungsstück kauft man sich ein neues, heißt es doch. Womöglich bestellt er gerade das Nachfolgermodell im Internet.
Doch so viel Glück habe ich nicht. Wenige Augenblicke später steht er mit seinen Freunden vor mir und sieht mich fragend an.
„Hallo", sage ich zur Begrüßung.
„Hallo, hast du mein Hemd?", will er wissen. Er klingt einigermaßen freundlich, was mir meine Angst nimmt.
„Ja, habe ich. Bitte", sage ich und halte ihm die Tüte hin. Skeptisch nimmt er sie entgegen und zieht das Hemd heraus.
„Es ist eingelaufen", stellt er fest. Sehe ich da etwa ein Grinsen?
„Nun ja, das war ich nicht, das war die Waschmaschine", verteidige ich mich.
„Die Waschmaschine, soso. Das ist aber eine böse Waschmaschine", sagt er lächelnd.
Er sieht charmant dabei aus und ich erwidere sein Lächeln.
„Willst du was trinken? Du musst mir unbedingt von dieser bösen Waschmaschine erzählen",sagt er und reicht mir die Tüte zurück. „Das Hemd kannst du behalten. Als Erinnerung."
Wie gütig! Ich wollte schon immer ein eingelaufenes Hemd haben.
Trotzdem gehe ich mit ihm in den Pub. Die Leute beachten uns gar nicht und keiner scheint mehr an den Vorfall von vor drei Tagen zu denken.
Wir setzen uns zu zweit an einen Tisch, seine Freunde belegen den daneben.
„Wieso kommen sie nicht mit zu uns?", frage ich ihn.
„Die werden es auch mal kurz ohne mich aushalten", meint er leichthin. „ Ich heiße übrigens Henry, falls ich mich noch nicht vorgestellt habe."
„Ich heiße Viktoria, aber nenn mich ruhig Tori", antworte ich. Ich mag seine Augen, wenn erlächelt, habe ich das schon erwähnt?
„Gut, Tori. Was hat es denn nun mit der Waschmaschine auf sich?", fragt er ernst. Ich dachte,er mache Witze, als er meinte, ich sollte ihm was darüber erzählen.Mein Englisch ist wirklich nicht das Beste und ich weiß, dass ich mich wieder blamieren werde. Trotzdem erzähle ich ihm die ganze Geschichte vom Waschen bis zum Kauf eines neuen Hemdes.
Am Ende lacht nicht nur er, sondern auch seine Freunde, die mir zugehört hatten. Ich werde ziemlich rot im Gesicht und ähnele bestimmt einer Tomate.
„Du bist also echt auf die Idee gekommen, mir ein neues Hemd zu kaufen?", lacht er.
„Ich wollte dir dein eingelaufenes Hemd nicht zurückgeben, das macht man nicht. Ich habe es zerstört, also muss ich auch ein neues besorgen", erwidere ich zusehends genervt. Warum lacht er mich so aus? Das habe ich gar nicht nötig.
„Tut mir leid, tut mir leid", beteuert er schnell. „ Aber es ist einfach zu lustig, um wahr zu sein. Tori, ich mag dich!"
Diese spontane Bekundung seiner Zuneigung lässt mein kleines Herzchen ein bisschen höher schlagen. Aber nur ein bisschen, schließlich kann das alles nur ein Witz sein. Britischer Humor gleicht nicht dem in Resteuropa.
„Danke", sage ich. „Aber ich sollte langsam gehen, die Arbeit wartet."
„Was arbeitest du denn?", will er interessiert wissen.
„Ich bin au- Pair", sage ich knapp, denn ich will wirklich los.
„Also bist du keine Irin, obwohl du so aussiehst", sagt er grinsend. Ich blicke ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
„Du bist auch kein Ire, obwohl du so aussiehst", kontere ich und steh auf.
„Nein, warte, das war so nicht gemeint. Es sollte ein Scherz sein", entschuldigt er sich bei mir. Seine wunderschönen Augen sehen mich flehend an.
„Ich komme aus Deutschland", sage ich. „Genauer gesagt, aus Ostdeutschland." Er soll sich schließlich etwas darunter vorstellen können.
„Ich war auch schon mal in Deutschland. Ist schön bei euch und das Bier schmeckt viel besser." Er grinst und bekommt dabei tatsächlich Grübchen. Fantastisch!
„Mit dem Bier stimme ich dir auf jeden Fall zu", sage ich lachend. „Aus welchem Teil Englands kommst du genau?"„Ich wohne in London", lautet seine einfache Antwort.
„Da wollte ich schon immer mal hin", schwärme ich. „Erzähl mir mehr darüber."
Und Henry erzählt und erzählt und ich vergesse meine anfänglichen Vorbehalte ihm gegenüber. Er ist echt nett und freundlich.
Aufmerksam höre ich ihm zu, aber seine Erzählungen werden von einem seiner Freunde unterbrochen.
„Henry, wir sollten gehen", meint er ernst.Fragend sehe ich vom einen zum anderen.
„Habt ihr noch was Wichtiges vor?"„Ja, ich muss noch was erledigen. Ich hatte es total vergessen, weil du mich so abgelenkt hast,Tori", meint er mit einem Augenzwinkern. „Ach, bevor ich gehe, gebe ich dir meine Nummer."
Überwältigt von seinem Angebot finde ich mein Handy erst gar nicht. Aber Henry hatte seine Nummer schon auf einen Zettel geschrieben und hält sie mir nun entgegen. Als ich ihm den Zettel aus der Hand nehme, berühren sich unsere Finger leicht und ich spüre ein Kribbeln im Bauch.
„Auf Wiedersehen, Viktoria. Wir sehen uns hoffentlich bald wieder", sagt er zum Abschied.
Ich nehme die Welt um mich herum nicht mehr wahr. Mein Blick folgt ihm, bis er um eine Straßenecke biegt und verschwindet, dann holt mich die Realität wieder ein. Ich falte den Zettel mit seiner Nummer und stecke ihn in meine Tasche. Dann verlasse ich mit einem Grinsen im Gesicht und einer Tüte in der Hand den Pub.  

Story of my Life - Ein englisches GeheimnisWhere stories live. Discover now