Kapitel 5

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  Ich sehe einen Mann im Anzug, der ein Schild mit meinem Namen in der Hand hält. Henry hatte mir ein Foto von seinem Freund Andrej geschickt, der eigentlich aus Russland stammt,aber Henrys Freund seit dem Studium ist. Er meinte, ich kann ihm vertrauen. Also tue ich das und gehe zielstrebig auf ihn zu.„Hallo, Andrej, ich bin Viktoria", stelle ich mich ihm vor. Andrej sieht mich bloß unbeeindruckt an und winkt mich mit sich. Na gut, wenn er nicht reden will, dann halt nicht.Wir verlassen das Bahnhofsgebäude und treten hinaus in die belebten Berliner Straßen. Ich habe gar keine Zeit, mir alles anzusehen, weil Andrej ein schnelles Tempo vorlegt. Und schon stehen wir vor einem fetten, schwarzen BMW. Was für ein Luxus!Gentlemanlike hält Andrej mir die Beifahrertür auf und setzt sich hinters Steuer. Geübt fädelter sich wieder in den Verkehr ein und rast durch die Stadt. Das würde ich mit dem Auto auch tun!Wir erreichen kurz darauf das Hotel „Adlon", die teuerste Absteige in der ganzen Stadt und vorteilhaft am Brandenburger Tor gelegen. Hier wohnen Stars wie Udo Lindenberg oder hohe Staatschefs. Wie kann Henry sich so ein Zimmer hier leisten?Andrej steigt aus und öffnet meine Tür. Sofort eilen zwei Pagen herbei, um meine kleine Reisetasche auszuladen. Wirklich freundlich.Ich folge ihnen in das Foyer des Hotels. Mir kommt es vor, als würde ich eine goldene Halle betreten, weil alles so edel und teuer aussieht. Völlig überwältigt bleibe ich einen Augenblick stehen, um alles auf mich wirken zu lassen.„Wahnsinn", seufze ich. Zu gern würde ich hier mal übernachten und das exzellente Essen genießen.„Kommen Sie, Viktoria, Henry erwartet Sie bereits", sagt Andrej, der nun scheinbar doch seine Sprache wiedergefunden hat.Ich reiße mich von den fantastischen Eindrücken um mich herum los und folge ihm. Wir nehmen den Fahrstuhl und fahren in die oberste Etage – wo die Suiten sind.„Henry hat eine Suite gebucht?", frage ich meinen Begleiter. Andrej zuckt nur mit den Schultern. „Natürlich."So natürlich ist das auch wieder nicht. Er muss wahrhaft gut verdienen, um sich so eine Suite leisten zu können. Ich kann mir nicht mal die Abstellkammer hier mieten, ohne am nächsten Tag bankrott zu sein. Mit einem Bing öffnet sich die Fahrstuhltür und wir treffen den Pagen mit meinem Gepäck wieder. Ich hatte es noch gar nicht vermisst.Forsch klopft Andrej an die Tür gegenüber dem Fahrstuhl.„Ah, da seid ihr ja!", höre ich Henrys wundervolle Stimme von drinnen und sofort öffnet sich die Tür. Der Page drückt ihm das Gepäck in die Hand, verbeugt sich und lässt uns allein.Scheinbar erwartet er gar kein Trinkgeld.„Viktoria", begrüßt mich Henry gut gelaunt. Als er mich umarmt, rieche ich sein Parfüm.Bestimmt Chanel oder Dior. „Komm doch herein, ich will mich noch umziehen."Ich betrete seine Suite. Der Teppich ist cremefarben und sieht neu aus. Die Wände sind Ton in Ton mit dem Teppich. Und in der Mitte des Raumes steht ein riesiges Himmelbett! Ich habe mich soeben verliebt. Hier bleibe ich und gehe nie wieder weg. Andrej grinst, währender mich beobachtet.„Gefällt es Ihnen?", fragt er.„Ja, sehr sogar. Gegen dieses Bett ist meines ein Strohsack", sage ich ehrlich. Am liebsten würde ich mich ja drauflegen. Nur mal so...„Nur zu, Viktoria, probieren Sie es mal", meint Andrej, der offenbar meine Gedanken gelesen hat. Ohne zu zögern, werfe ich mich auf das weiche Bett. Es schaukelt sanft unter mir. Ein Wasserbett also! Begeistert rolle ich mich hin und her und würde mich nur zu gern in die Decke wickeln und einschlafen.„Tori?", fragt Henry überrascht. Schnell springe ich vom Bett runter und sehe ihn verlegen an.„'tschuldigung, ich wollte nur mal dein Bett ausprobieren", nuschele ich und grinse ihn schief an. Kopfschüttelnd lächelnd nimmt Henry das zur Kenntnis. Ich komme ihm bestimmt kindisch und albern vor. Habe ich es jetzt kaputt gemacht?„Wenn du willst, bleiben wir hier und du kannst das Bett weiter erkunden", schlägt Henry ernsthaft vor.„Nein, nein, das muss nicht sein. Lass uns gehen", erwidere ich aufgeregt. Wieso bin ich so nervös? Na gut, ich kenne Henry erst seit wenigen Wochen und in dieser Zeit haben wir uns kaum gesehen, also dürfte meine Nervosität normal sein.Wir verlassen seine Suite- und das unglaublich traumhafte Bett – und fahren mit dem Fahrstuhl nach unten. Das Personal grüßt uns freundlich und ich merke, dass ich alle Frauen unsympathisch finde, die Henry länger als nötig ansehen. Bin ich etwa eifersüchtig?Vor dem Hotel wartet schon eine Limousine auf uns. Zuerst ignoriere ich sie, weil ich nicht damit rechne, dass sie auf uns wartet. Aber als Henry mich sanft am Arm fasst und zu dem schwarzen Wagen führt, kann ich mein Glück kaum fassen. Zum ersten Mal in meinem Leben darf ich in einer Limousine sitzen! Mein Vater ist bestimmt neidisch, wenn ich ihm das erzähle.„Du hast eine Limousine gemietet?", frage ich Henry neugierig. Andrej, der uns begleitet,grinst vor sich hin. Warum fährt er eigentlich mit? Möchte Henry nicht mit mir allein sein?„Nun ja, so könnte man das nennen. Aber eigentlich gehört sie mir", gibt er schließlich zu.Überrascht sehe ich ihn an. „Wirklich?"Er lacht und nickt. „Ja."Andrej mischt sich in unser Gespräch ein.„Viktoria, ich möchte Ihnen vorab sagen, dass Sie dann ungestört mit Henry sein werden. Ich begleite euch nur während der Fahrt."Das beruhigt mich mehr, als er sich denken kann. Ein Date zu dritt wäre auch keine Alternative.„Okay", sage ich schlicht.„Freust du dich schon?", will Henry wissen und wechselt das Thema.„Ja, sehr. Und du?"„Ich mich auch. Ich bin sehr froh, dass du die Zeit hast, hierher zu kommen. Wie geht es deiner Familie?"Smalltalk ist genau sein Ding. Er beherrscht diese Kunst wie kein Zweiter.„Es geht allen gut und ich bin froh, wieder deutsche Gerichte essen zu können. Das irische Essen ist doch gewöhnungsbedürftig", sage ich ehrlich.Henry lächelt. „Nun, ich werde mich heute von der guten deutschen Küche überzeugen."In diesem Moment hält die Limousine vor dem Eingang des Fernsehturmes. Von außen wird die Tür geöffnet und ich darf als Erste aussteigen. Henry und Andrej folgen mir.Wie es aussieht sind wir die einzigen Gäste an diesem Donnerstagabend. Andrej geht voraus und wir folgen ihm. Er hält auf eine ältere Kellnerin zu und wechselt einige Worte mit ihr. Sie scheint ihn zu verstehen, denn sie winkt uns, ihr zu folgen. Wir gehen durch das leere Restaurant zu einem Tisch am Fenster. Auf dieser Seite können wir den Sonnenuntergang sehen. Wie romantisch! Henry rückt mir den Stuhl zurecht und lässt mich Platz nehmen. Dann nickt er Andrej zu, der uns sogleich allein lässt.Obwohl wir die einzigen Gäste sind, fühle ich mich sehr wohl hier. Das liegt wahrscheinlich an Henrys Anwesenheit. Seine Augen sind so blau, wie der Himmel und das Meer...Schnell wende ich meinen Blick von ihm ab. Wenn ich schon solche Sachen denke, bin ich doch nicht etwa verliebt, oder?Die Kellnerin kommt und bringt uns unaufgefordert zwei Gläser Wein. Was für ein Service!Eigentlich trinke ich keinen Wein und auch sonst keinen Alkohol, wenn ich es vermeiden kann. Ich bevorzuge eher die nüchterne Alternative und sorge dafür, dass alle anderen dem Alkohol mehr zusprechen, als sie sollten, damit ich meinen Spaß damit habe. Das klingt jetzt bestimmt gemein, aber jeder der es mal ausprobiert, weiß, wie lustig es eigentlich ist.Henry hebt sein Glas, um mit mir anzustoßen.„Auf einen schönen Abend!", sagt er lächelnd.„Auf einen schönen Abend", erwidere ich und nippe an meinem Wein. Schmeckt nicht schlecht. Was für ein atemberaubender Anblick – und damit meine ich nicht die Skyline von Berlin.  

Story of my Life - Ein englisches GeheimnisWhere stories live. Discover now