Kapitel 10

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Das Wochenende steht an und meine Gasteltern sind vor wenigen Minuten abgereist. Jetzt habe ich das Haus für mich allein und kann mich aufs Bett legen und lesen. Um die Kühe kann ich mich später immer noch kümmern. Gerade habe ich mir einen Tee gemacht und mich hingesetzt, als es klingelt. Wer ist das denn? Seufzend stehe ich auf und gehe zur Tür.
„Hallo, Viktoria", begrüßt Henry mich grinsend. Sein Blick gleitet an meinem Pulli zur Jogginghose hinunter. Na toll.„Was tust du hier?", frage ich entsetzt. Mit ihm habe ich nicht gerechnet, weil ich ihm doch unmissverständlich gesagt habe, dass ich nicht mitkomme auf diese Kreuzfahrt.
„Ich hole dich ab. Zieh dich an, damit wir losfahren können", sagt er. Im Hintergrund sehe ich Andrej, Pete und Jake, die mir zuwinken. Ich winke freundlich zurück.
„Henry, das geht nicht. Ich habe mich um das Haus und die Kühe zu kümmern", weise ich ihn auf das Offensichtliche hin. Aber Henry ist stur wie ein Esel.
„Viktoria, ich bitte dich. Du willst doch was erleben. Zieh dich an und wir fahren sofort los."
„Was ist mit den Kühen?", frage ich. Er hat mich gleich soweit, dass ich nachgebe. Beim Anblick seiner Augen ist meine Konsequenz dahin.
„Ich habe drei Speziallisten mitgebracht", sagt er und winkt seine Freunde zu sich heran.Ernsthaft? Die nehmen mir noch den Stall auseinander mit ihrer Kraft.
„Aber das sind doch deine Freunde", sage ich, weil ich nicht verstehen kann, wie er sie so herumkommandiert. Das macht man nicht.
„Sie sind viel mehr als das. Du weißt doch, dass Pete mein Sekretär ist. Sie sind in allen Feldern einsetzbar", sagt er fröhlich. Na, wenn das so ist! Ich warte, bis die drei in Hörweite sind, dann beginne ich mit der Aufzählung ihrer Aufgaben, schließlich sollen sie es nicht allzu leicht haben.„So, Jungs, hört gut zu, denn unsere Kühe sind anspruchsvoll:Bertha muss aller zwei Stunden am Euter massiert werden, damit die Milch besser läuft. Sie ist schon etwas älter, da klappt das nicht mehr so gut. Ich habe es vorhin gemacht, also habt ihr noch eineinhalb Stunden bis zur nächsten Massage. Sie steht gleich rechts neben dem Eingang. Dann gibt es noch Claire, die müsste gewaschen werden. Wundert euch nicht, das ist Declans Lieblingskuh, also macht es richtig. Sprecht auch mit ihr, damit sie sich sicher fühlt.Ihre Box ist in der Mitte; der Eimer und das Shampoo stehen schon davor. Abgesehen davon haben wir noch hundert andere Kühe, die gefüttert werden wollen. Dazu nehmt ihr einfach die Sense in die Hand und geht auf die Weiden, um frisches Gras zu mähen. Die Kühe dürfen nur biologisch essen, damit die Milch gut wird. Wir haben auch Kälber, die bekommen die Flasche. Dazu erwärmt ihr einfach etwas Milch, die sich im Kühlschrank am Ende des Stalles befindet."Ich überlege kurz. „Das wäre es eigentlich. Schafft ihr das?"Perplex sehen mich die drei Männer an. Damit haben sie bestimmt nicht gerechnet und ich kann nur schwer ernst bleiben. Natürlich behandeln wir die Kühe im Normalfall nicht so, aber ich wüsste gern, ob die Männer wirklich jede Aufgabe ernst nehmen.„Klar, kein Problem", antwortet Jake schließlich. Begeisterung sieht anders aus.„Vielen Dank! Da kann ich mich ja getrost umziehen", sage ich und verschwinde im Haus.Oben angekommen muss ich herzlich lachen. Die haben es mir tatsächlich abgekauft!Wahnsinn. Henry hat tolle „Freunde".Ich entscheide mich für eine schlichte Bluse und eine Hose. Das geht immer. Dann stecke ich noch mein Handy und Geld ein und renne nach unten.„Können wir?", fragt Henry. Ich nicke und wir gehen auf die Limousine zu. Den Fahrer habe ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen. Merkwürdig.„Wo sind Andrej, Pete und Jake?"„Na, im Stall. Du hast ihnen doch eine Aufgabe gegeben, erinnerst du dich?"Ich habe bis zuletzt gedacht, dass sie die Aufgabe nicht ernst nehmen.„Henry, die Kühe werden eigentlich nicht so behandelt", rücke ich mit der Sprache raus, aber er lacht bloß.„Lass sie ruhig neue Erfahrungen sammeln. Das schadet ihnen nicht", meint er leichthin. Na gut, wenn er das so sieht. Eigentlich könnte er mir seine Freunde auch mal zum Putzen oder Kochen ausleihen. Das wäre eine echte Hilfe.Wir steigen in das Auto ein, wobei Henry wie immer meine Tür aufhält. Was für ein Gentleman!Drinnen wartet schon Champagner auf uns. Henry entkorkt die Flasche und gießt den Alkohol in Gläser.„Auf die Kreuzfahrt!", sagt er und wir stoßen an. Ich nippe an dem prickelnden Getränk und spüre eine seltsame Leichtigkeit. Alkohol verändert Menschen, das wusste ich schon immer.Aber er schmeckt so gut!„Wir fahren aber nicht wirklich bis Frankreich, oder?", will ich wissen. Das kann ich mir nicht vorstellen.„Doch, natürlich. Andernfalls hätte ich das Schiff gar nicht buchen müssen", sagt Henry.„Moment, soll das heißen, du hast das GESAMTE Schiff gebucht?"Er nickt gelassen. Warum wundert mich das nicht? War beim Fernsehturm doch genauso.„Für dich nur das Beste, das weißt du doch", sagt er.„Ja, das ist auch ganz süß. Aber mir macht es nichts aus, auch mit anderen Menschen auf dem Schiff zu sein", sage ich vorsichtig, ich will ihn ja nicht kränken.„Das mag dir egal sein, aber mir nicht", erwidert er und trinkt seinen Champagner. Hilfe, ist der komisch. Wäre er nicht gleichzeitig so interessant, würde ich keinen Gedanken an ihn verschwenden. Ich weiß allerdings, dass mehr dahintersteckt. Irgendwann finde ich es heraus,hoffe ich. Von allein wird er es mir nicht sagen.Ich sage nichts mehr, um ihn nicht zu provozieren oder was Falsches zu sagen.Die Fahrt vergeht schnell und schon halten wir am Hafen von Cork. Sonst liegen Fischkutter oder Jachten am Hafen an. Ich bin froh, dass sie nicht da sind, denn sie hätten gar keinen Platz! Das riesige Kreuzfahrtschiff blockiert den Hafen für andere Schiffe.„Da sind wir", meint Henry und deutet auf das unübersehbare Monstrum in Weiß. Es zeigt keinen Schriftzug von großen Reedereien oder Ähnlichem. Henry greift nach meiner Hand und wir gehen durch den Hafen. Das Schiff hat viele Schaulustige angelockt, die sich wundern, warum es hier ist. Normalerweise wird sowas vorher von der Presse aufgeputscht und angekündigt. Das hier kommt für alle überraschend.Henry neben mir scheint nervös zu werden, je näher wir dem Schiff kommen. Warum hat er nur solche Angst vor Menschenansammlungen? Fürchtet er einen Anschlag oder so?Wir wühlen uns durch das Gedränge von Touristen und Einheimischen. Die meisten machen Fotos, weil sie nie zuvor ein Kreuzfahrtschiff gesehen haben. Ich muss zugeben, dass es sehr eindrucksvoll aussieht. Es hat drei Stockwerke und eine Sonnenterasse. Dort kann ich sogar Liegestühle sehen. Die Reling ist von unzähligen kleinen Laternen beleuchtet, was allem ein romantisches Flair verleiht. Jede Frau wäre jetzt, glaube ich, gern an meiner Stelle.Zielstrebig hält Henry auf die Treppe zu, die von zwei Matrosen bewacht wird. Tatsächlich stehen Menschen davor und bitten um Einlass.Als die beiden Henry sehen, spricht einer von ihnen ins Funkgerät und kurz darauf erscheint ein älterer Herr. Der Kapitän. Er erinnert ein wenig an den aus Titanic.„Willkommen!", begrüßt er uns überschwänglich.„Hallo, Freddy, lass uns schnell rein", sagt Henry drängend. Er hat's aber eilig. Schnell zieht er mich hinter sich her. Also wirklich! Ich hätte gern die staunenden Gesichter der Leute gesehen, die sich wundern, warum wir auf das Schiff dürfen und sie nicht.Sowas nennt man dann Pech!Henry begibt sich ins Innere des Schiffes. Wir sind ganz offensichtlich die einzigen Gäste,wie er schon gesagt hat. Ich folge ihm und Freddy, dem Kapitän, durch die verwirrenden Flure des Schiffes. Schon nach kurzer Zeit habe ich völlig die Orientierung verloren und hoffe, dass ich es heil hier raus schaffe. Freddy bleibt vor einer Suite stehen.„Bitte sehr, ich hoffe, sie gefällt euch", sagt er, bevor er die Tür öffnet. Also Henrys Suite im Hotel war schon atemberaubend, aber diese hier übertrifft alles.Sie ist doppelt so groß wie die im Hotel und hat einen Boden aus edlem Laminat. In einer Ecke wurde ein meterlanges Aquarium in die Wand eingelassen, in dem exotische Fische schwimmen. Freddy führt uns vor, wie man das Heimkino aus der Schrankwand ausfahren kann und präsentiert uns ein Bad mit Meerblick. Es hat den Anschein, als würde man in einem Pool direkt neben dem Meer baden. So etwas habe ich nie zuvor erlebt und bin dementsprechend sprachlos.Henry für seinen Teil sieht unbeeindruckt aus. Wahrscheinlich ist das bei ihm Standard.„Ich lasse euch nun allein", verabschiedet sich der Kapitän. „Wenn irgendwas braucht,klingelt." Damit ist eine kleine Klingel neben der Tür gemeint, die den Zimmerservice aktiviert.„Na, was sagst du?", will Henry von mir wissen, sobald wir allein sind.„Es ist umwerfend. Traumhaft. Großartig und fantastisch", sage ich begeistert. „Vielen Dank dafür."Er lacht leise. „Kein Problem. Ich sagte doch bereits, dass du nur das Beste verdienst."„Ach, komm, höre auf zu schleimen", sage ich grinsend, aber ich Wahrheit bin ich zutiefst berührt. An so viel Luxus könnte ich mich gewöhnen.„Wollen wir uns den Rest des Schiffes ansehen?", fragt er und reicht mir seine Hand, die nur zu gern ergreife.Im Gegensatz zu mir, findet Henry sich problemlos zurecht. Er führt mich aufs oberste Deck,wo ich vorhin die Liegestühle gesehen habe.Vor mir erstreckt sich ein großer Pool sowie eine Volleyball – und Tennisanlage.„Wollen wir Tennis spielen?", frage ich. „Oder traust du dich nicht?"Henry verdreht amüsiert die Augen. „Du wirst verlieren, Viktoria."Sicher werde ich das, denn ich bin nicht die beste Spielerin. Aber ich habe Kampfgeist und werde ihm ein hartes Duell liefern. Wir gehen hinüber zum Platz und bewaffnen uns mit Schlägern. Henry organisiert einen Ball und schlägt auf.Sein Schuss ist hart und gut, aber ich kriege den Ball und schieße zurück. Es gibt einen Punkt für mich, weil Henry ihn gegen das Netz geschossen hat.„Zufall!", ruft er mir zu.Ich bemühe mich um einen harten Aufschlag und er antwortet mit einem noch schärferen Schuss, den ich unmöglich halten kann. Punkt für ihn.„Zufall!", rufe ich ihm zu und er lacht.Das geht eine ganze Weile so, bis es unentschieden steht. Matchball. Henry schießt und ich komme zwar an den Ball, kann ihn jedoch nur bis ans Netz schießen. So ein Mist!„Ich hab gewonnen", sagt er triumphierend.„Ach nein, das hätte ich nicht gedacht", sage ich frustriert. Angeber.„Willst du eine Revanche?", fragt er grinsend.„Erstmal nicht. Ich überlege es mir noch", antworte ich. Wir gehen an die Reling, um auf das Meer zu sehen. Das Schiff hupt plötzlich so laut, dass ich erschrecke.„Wir legen ab", erklärt mir Henry. Im Schneckentempo entfernen wir uns von Cork. Ich komme mir vor wie auf der Titanic und hoffe, dass unser Schiff keinen Eisberg trifft.Henry führt mich weiter durch die Flure und Decks des Kreuzfahrtschiffes. Ab und zu begegnen wir einem Angestellten, die uns scheu grüßen. Es ist irgendwie einsam, wenn keine anderen Gäste da sind. Doch mit Henry an meiner Seite ist es erträglich.

Story of my Life - Ein englisches GeheimnisWhere stories live. Discover now