Kapitel 8 - einige Tage später

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  Ich sitze im Flieger nach Irland. Seit unserem Treffen in Berlin habe ich nichts mehr von Henry gehört. Könnte natürlich auch daran liegen, dass ich mich standhaft weigere, bei WhatsApp nachzusehen, ob er geschrieben hat. Wenn ich schmolle, dann richtig!Neben mir sitzt ein Geschäftsmann, der mich ein bisschen an Henry erinnert. Ich vermeide es,so gut es geht, ihn anzusehen und gebe mir Mühe, keine Vergleiche zu ziehen. Das ist schwerer als ich dachte, denn Henry hat sich in mein Herz geschlichen und lässt mich nicht mehr los. Ich weiß selbst, dass das kitschig klingt, aber es ist einfach so.Unter mir kann ich schon den Flughafen von Cork erkennen. Gleich bin ich da!Der Geschäftsmann neben mir ist eingeschlafen, also rüttele ich ihn sanft an der Schulter,damit er vor der Landung aufwacht. Er lächelt mich dankbar an.Ich verlasse das Flugzeug und freue mich riesig, meine Gastfamilie in der Halle zu sehen. Wir umarmen uns zur Begrüßung und fahren zu ihrem Haus.„Wie war es zu Hause?", fragt Declan.„Ganz schön. Ich habe viele Freunde getroffen und Zeit mit meiner Familie verbracht", sage ich. Von Henry erwähne ich natürlich nichts.Als wir angekommen sind, gehe ich zielstrebig in mein Zimmer. Ich bin todmüde und möchte für mich allein sein. Das habe ich mir jetzt auch verdient. Die Kinder schlafen schon und ich mache mich, so leise ich kann, fürs Bett fertig.Soll ich Henry schreiben? Soll ich überhaupt mal nachsehen, ob er mir geschrieben hat? Oder besser nicht? Was ist, wenn er sich tausendfach entschuldigt? Kann ich ihm da verzeihen oder soll ich weiter schmollen?Derzeitiger Status: Vom Leben gemobbt!Der nächste Tag beginnt für mich mit Kissen, die auf meinem Gesicht landen. Ich gönne den Kindern den Spaß und tue weiter so, als würde ich noch schlafen.„Komm, Kate, wir springen auf sie drauf", schlägt Grace vor. Ein ganz schön freches Mädchen!Und schon weicht mir alle Luft aus den Lungen, weil die beiden auf mich springen. Keuchend setze ich mich auf und werde von strahlenden Kindern begrüßt.„Guten Morgen", sagen sie gut gelaunt. Wie süß sie sind, wenn sie lächeln.„Guten Morgen. Ihr habt mich sehr unsanft geweckt", sage ich tadelnd. Die beiden sehen mich enttäuscht an, aber dann trifft sie mein Kopfkissen und sie schenken mir ihr bezauberndes Lachen. Das habe ich wirklich vermisst.Sobald Grace und Kate mich loslassen, steige ich aus dem Bett.„Geht schon mal runter, ich komme gleich", sage ich. Die beiden lassen mich allein und ich ziehe mich schnell an, damit ich ihnen Frühstück machen kann. Heute ist Montag und ihre Eltern sind schon aus dem Haus. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass wir uns sehr beeilen müssen, um nicht zu spät zu kommen. Aber ein Frühstück muss sein. Dafür fahre ich dann einfach schneller mit dem Auto.Die beiden sind ebenfalls schon angezogen und warten ungeduldig auf ihr Essen. Ich mache ihnen ihre Cornflakes zurecht und während sie essen, bereite ich ihre Pausenbrote vor. Grace hat eine Vorliebe für Käse und Kate mag es süß. In der Eile mache ich nicht so viel Tamtam und packe alles in ihre Rucksäcke.„So, putzt eure Zähne und dann geht's los", sage ich.Fünf Minuten später sitzen wir im Auto und ich fahre, besser gesagt, rase die Straße entlang.In Irland ist Linksfahrgebot, was ich anfangs gewöhnungsbedürftig fand. Mittlerweile komme ich damit zurecht. Die Straßenschilder ziehen an mir vorbei und ich ignoriere sie, denn ich will nicht, dass die beiden zu spät kommen.Die Grundschule befindet sich zum Glück am Stadtrand, sodass mir der Berufsverkehr erspart bleibt. Ich parke perfekt in einer Parklücke und öffne die Autotür.„Ich wünsche euch einen schönen Tag", rufe ich den beiden hinterher. Es ist zwei Minuten vor neun. Sie kommen also pünktlich.Zufrieden mit mir setze ich mich wieder ins Auto und verlasse den Schulhof. Bis Mittag habe ich nun frei. Das trifft sich sehr gut, denn dann kann ich mal bei Christin vorbei schauen. Ihre Kinder sind auch gerade in der Schule und sie dürfte sich nun bestimmt langweilen. In gemächlichen Tempo fahre ich durch die Stadt zu Christin. Sie weiß nicht, dass ich komme,es soll ein Überraschungsbesuch werden.Ich stelle das Auto vor ihrem Haus ab und klingele. Der Gesichtsausdruck von Christin, als sie die Tür öffnet und mich sieht, ist mit nichts zu bezahlen. Ach, ich habe sie echt vermisst!Mit ihr kann ich über alles reden.„Tori, du bist wieder da!", freut sie sich.„Ja! Kann ich rein kommen?", frage ich.„Aber natürlich", sagt sie und tritt zur Seite. Sofort nehme ich Abstand von der Tür, denn Christin kann einen mit Türen ganz schön verletzen. Das musste eine Lehrerin in der Schule am eigenen Leib erfahren, die die Tür in die Nieren gestoßen bekam. Christin hat sich natürlich entschuldigt, aber die Lehrerin hatte es echt verdient gehabt.Sie führt mich ins Wohnzimmer. Ihre Gastmutter hat es gemütlich eingerichtet, was mir sehr gut gefällt.„Also, wie war es?", fragt sie neugierig.„Ich werde es möglichst knapp berichten, denn es ist ganz schön viel passiert", sage ich und erzähle ihr alles bis ins letzte Detail. Ich lasse nichts aus und sehe an ihrer Mimik, dass sie mir folgen kann. Das ist nämlich total verwirrend.Als ich fertig bin, herrscht kurz Stille. Christin denkt über meine Worte nach, das sehe ich an ihrer in Falten gezogenen Stirn.„Okay, Tori, ich glaube, du hast echt ein Problem", meint sie schließlich. Gut, dass wir beide das jetzt wissen.„Ich weiß, aber was soll ich denn jetzt machen?", will ich von ihr wissen. Als meine Freundin ist es ihre Pflicht, mir kluge Ratschläge zu geben.„Das ist echt kompliziert. Einerseits willst du ihm ja vergeben, aber andererseits soll er noch zappeln. Es ist nämlich nicht klug, zuerst nachzugeben", sagt sie nachdenklich. „Willst du nicht doch mal bei WhatsApp nachschauen?"Seufzend hole ich mein Handy aus der Tasche. Ich öffne die App und schalte das Internet ein.Es dauert nicht lange, bis ich fünfzig neue Nachrichten habe. Die meisten sind von Henry und der Rest von Freunden.„Lies schon", fordert Christin mich ungeduldig auf. Sie hat leicht reden, es ist ja nicht ihr Leben .Ich öffne den Chat und finde immer dieselben Wörter vor: es tut mir leid, Tori.In meiner Vorstellung existiert ein heulender Henry, der diese Nachrichten geschrieben hat.Sie wurden jeden Tag abgeschickt- bis heute. Henry ist gerade online.„Komm schon, schreib ihm", schlägt Christin vor.„Nein, bitte, ich will nicht. Er schrieb mir ständig tut mir leid, aber keine einzige Erklärung!"Verständnisvoll sieht Christin mich an. Wenn sie ihren Bettelblick aufsetzt, wird sogar der härteste Stein zu Pudding. Aber ich bleibe standhaft.„Ich werde ihm nicht schreiben. Nicht jetzt jedenfalls", weigere ich mich.„Was ist, wenn er dir gar nicht mehr schreibt? Dann wirst du es bereuen, dass du es nicht getan hast", sagt Christin. Jetzt kommt sie schon mit der ich-mach-dir-ein-schlechtes Gewissen-Masche.Sehr einfallsreich.„Dann ist es eben so", erwidere ich kühl. In Wahrheit würde für mich dann die Welt untergehen und ich würde in ein tiefes Loch fallen. Christin zieht skeptisch eine Augenbraue nach oben. Ich hasse es, wenn Menschen sowas machen. Das sieht so eklig aus.„Viktoria", sagt sie im Lehrerton. „Ich vergebe dir, denn du weißt nicht, was du tust. Aber lass mich dir sagen, dass es Henry wirklich leid tut, also könntest du mit dem Schmollen langsam aufhören."„Ich werde es versuchen. Aber nicht heute oder morgen. Vielleicht übermorgen", schlage ich scherzhaft vor und Christin muss lachen.Wir reden noch eine Weile über Belanglosigkeiten, was mich aufmuntert. Christin ist wirklich eine gute Freundin und ich bin froh, dass sie hier in Irland ist.Ich fahre wieder nach Hause, weil es Zeit wird Mittagessen zuzubereiten. Heute gibt es die Reste von gestern und ich bin froh, nicht selbst kochen zu müssen. Ich gehöre zu den Menschen, die selbst Nudeln versalzen.Beim Haus meiner Gasteltern angekommen, erwische ich gerade noch den Postboten, der ein kleines Päckchen in den Händen hält. Ich nehme es ihm ab und sehe, dass mein Name darauf steht. Positiv überrascht gehe ich ins Haus und lege es in mein Zimmer. Zum Nachschauen,von wem es ist und was drin ist, komme ich nicht, denn schon höre ich die Haustür aufgehen und Declan kommt zum Mittagessen vorbei. Grace und Kate essen normalerweise mit uns,aber heute haben sie einen Ausflug, sodass ich mit Declan allein bin.Ich erwärme das Fleisch und die Kartoffeln von gestern und serviere sie ihm.„Mary und ich möchten nächstes Wochenende mit den Kindern zu Verwandten fahren. Du hast das Haus dann also für dich allein", erzählt er mir. „Wenn du magst, kannst du andere Au-Pairs zu uns einladen."Das ist sehr lieb von ihm.„Danke für das Angebot. Ich werde mir schon was einfallen lassen. Vielleicht unternehme ich etwas mit Christin", sage ich.„Ich würde dich dann nur bitten, an diesen Tagen nach den Kühen zu sehen. Eigentlich lasse ich sie nicht gern allein, aber du passt bestimmt gut auf sie auf", meint Declan.„Ja, kein Problem", sage ich zuversichtlich. Mit Kühen komme ich schon klar. Die Kälber sind auch ganz niedlich, also sollte das nicht zu schlimm werden.„Alles klar, dann gehe ich mal wieder arbeiten", sagt er und verschwindet wieder. Ich räume den Tisch ab und wasche das Geschirr ab. Wir haben auch einen Geschirrspüler, aber ich habe gerade Lust dazu.Danach lege ich noch Wäsche zusammen und räume sie in die Schränke der Kinder. Ich sehe noch mal nach, ob ich noch etwas tun kann, bevor ich in mein Zimmer gehe.Ich habe eine Nachricht von Christin erhalten:Schreib Henry endlich!Also manchmal nervt's! Echt mal, hat sie sonst nichts zu tun?Immer mit der Ruhe. Der Tag ist ja noch lang.Christin schreibt....Tori!!!!!!Ich kann ihren Gesichtsausdruck richtig vor mir sehen und muss grinsen. Ach, ohne die Christin wäre mein Leben wirklich trostlos.Ich gehe offline und werfe mein Handy aufs Bett. Neben das Päckchen.Nun packt mich doch die Neugierde und ich nehme es erneut in die Hand. Von wem es wohl sein mag? Meine Eltern hätten mir vorher Bescheid gesagt und gefragt, was sie schicken sollen. Geburtstag habe ich nicht und Weihnachten ist noch weit entfernt.Ein kleines bisschen aufgeregt drehe ich das Päckchen, um den Absender zu lesen.Mein Herz bleibt einen Augenblick stehen, als ich lese, von wem das kleine Päckchen ist.Das darf doch nicht wahr sein!  

Story of my Life - Ein englisches GeheimnisWhere stories live. Discover now