Kapitel 12

43 4 0
                                    


Nach nur gefühlten fünf Minuten Schlaf werde ich vorsichtig geweckt.
„Was ist?", frage ich genervt. Ich will jetzt nicht aufstehen.
„Guten Morgen, Tori", höre ich Henrys Stimme. „Steh bitte auf, es wird Zeit."
Nein, wird es nicht. Ich hasse es, geweckt zu werden. Trotzdem bin ich nett und öffne meine Augen. Als ich durch das Fenster blicke ist noch alles dunkel.
„Was soll das? Es ist stockfinster draußen und du weckst mich", knurre ich.
Henry lacht bloß. „Es ist bereits halb sechs. Wenn du dich nicht beeilst, verpassen wir den Sonnenaufgang."
So romantisch ich seine Idee auch finde, bin ich doch kein Freund davon. Wieso muss die Sonne so früh aufgehen? Wir hätten uns stattdessen auch einfach den Sonnenuntergang anschauen können. Ich wickele mich aus der Decke und setze mich hin. Das ist mehr als er an einem gewöhnlichen Sonntag von mir erwarten könnte. Seine Augen funkeln mich belustigt an und ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich ein Vogelnest auf meinem Kopf habe. So kann ich auf keinen Fall bleiben, deshalb gehe ich ins Bad, um mich zurecht zu machen. Und weil ich schon mal stehe, kann ich mich auch gleich ordentlich anziehen. Ich habe zum Glück Wechselsachen eingepackt. Henry ist bereits fertig angezogen, wie immer tadellos. Sonntags ist Jogginghosentag, aber das kann ich ihm nicht antun.
„Du siehst gut aus", sagt er zu mir. Das glaube ich ihm zwar nicht, doch ich tue so, als würde ich mich über sein Kompliment freuen.
„Also, wo sehen wir uns den Sonnenaufgang an?", will ich wissen. Draußen ist es bestimmt noch kalt, also lass es bitte nicht draußen sein...
„Auf dem Oberdeck", sagt Henry und ich stöhne innerlich. Es muss unbedingt draußen sein. Ich werde erfrieren oder mir zumindest eine Lungenentzündung holen und daran sterben.
Zur Prävention ziehe ich mir eine dünne Jacke an, die mich wohl kaum gegen den Wind schützen wird. Aber wer schön sein will, muss leiden. Henry ergreift meine Hand und wir verlassen unsere Suite. Heute ist er wieder freundlich und zuvorkommend. Ich muss seine gute Stimmung ausnutzen, solange sie da ist. Hoffentlich zerstöre ich sie nicht wieder. Aber ich kann nichts dafür, wenn er von sich aus anfängt zu reden. Man sollte eben denken, bevor man was sagt! Wir haben das Oberdeck erreicht und richten unseren Blick gen Osten, wo ein zartes Leuchten den Horizont erhellt. Es sieht wunderschön aus – und dauert hoffentlich nicht allzu lange, denn mir ist kalt. Ich rücke näher an Henry heran, damit ich mich wärmen kann. Er legt seinen Arm um mich und drückt mir einen Kuss aufs Haar.
„Weißt du, warum ich dir den Sonnenaufgang zeige?", fragt er mich.
„Nein, wieso?" Auf die Erklärung bin ich jetzt mal gespannt.
„Die Sonne leuchtet genauso hell wie du. Als ich dich im Pub ansah, ging ein Leuchten von dir aus, das mich sofort fasziniert hat. Und abgesehen von der Haarfarbe bist du dem Sonnenaufgang auch sonst sehr ähnlich: du strahlst Wärme und Kraft aus, du machst mich glücklich und wenn du nicht bei mir bist, wird die Welt für mich dunkler und einsamer, Viktoria", sagt Henry und ich bin zum ersten Mal im Leben gerührt, solche Worte zu hören. Ich kann nicht mal bei Tragödien weinen, aber seine Worte lassen mir Tränen der Freude in die Augen steigen. Ich hatte bisher nicht damit gerechnet, dass er in der Lage ist, sowas derartig Schönes zu sagen. Er hat mich überrascht. Da mir keine passenden Dankesworte einfallen, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und gebe ihm einen liebevollen Kuss, den er sofort erwidert. Mein Bauch kribbelt und es liegt nicht am Hunger. Nein, ich glaube, ich fange gerade an, mich zu verlieben.
„Ist dir kalt?", fragt er besorgt.
„Es geht schon", lüge ich, aber meine klappernden Zähne verraten mich.
„Lass und nach drinnen gehen und erstmal was frühstücken", schlägt Henry vor. Nur zu gern stimme ich dem zu. Wir gehen händchenhaltend nach drinnen, wo – was für eine Überraschung – schon alles vorbereitet ist. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, dass wir die einzigen Passagiere sind, aber es ist immer noch gruselig. Wir nehmen an dem reich gedeckten Tisch Platz. Prompt knurrt natürlich mein Magen, was Henry zum Schmunzeln bringt.
„All you can eat, Tori", sagt er. Ich belege meinen Teller mit allem, was darauf passt. Zu Hause gebe ich mich mit wenig zufrieden, aber wann gibt es denn zu Hause auch Pancakes? Es schmeckt sehr lecker und ich genieße jeden Bissen. Henry beobachtet mich dabei, sagt aber nichts. Besser so für ihn.
„Wir haben Frankreich gleich erreicht", sagt er schließlich. Mir bleibt vor Schreck eine Weintraube im Hals stecken.
„Wie bitte?", sage ich, nachdem ich mich ausgehustet habe.
„Ich habe dir doch gesagt, dass wir dort Halt machen werden" antwortet Henry ernst.
„Ja, das habe ich aber nur für einen Scherz oder so gehalten", sage ich wahrheitsgemäß.
Henry legt langsam sein Toast beiseite, faltet die Hände unter seinem Kinn und sieht mich an. Das kann ja heiter werden – nur ohne die Aussicht auf Fleischbällchen.
„Viktoria", sagt er und sieht mir in die Augen, „ich würde mir nie einen Scherz mit dir erlauben. Dafür bist du zu schade. Das mit Frankreich meinte ich wirklich ernst. Ich habe einen meiner Lieblingsorte dort, den ich dir gern zeigen möchte. Ist das okay für dich?"
Mir klappt die Kinnlade herunter. Er hat einen Lieblingsort in Frankreich?
„Ja, ich würde ihn mir nur zu gern ansehen", antworte ich schnell. Meine Neugier ist geweckt. Ich stelle mir einen kleinen Hafenort an der Küste vor, wo nur drei Häuschen stehen und alles still ist. Oder eine florierende Metropole mit Meerblick. Vielleicht ist es auch eine kleine Bucht, ganz versteckt. Wir beenden unser Frühstück in dem Moment, in dem das Schiff sich dem Festland nähert. Ich sehe nur Felsen in der Brandung, ab und zu steile Klippen. Die Morgensonne lässt das türkisblaue Meer unter uns glitzern. Es könnte wärmer sein, aber sonst ist das Wetter fantastisch. Mit lautem Hupen signalisiert das Schiff dem Hafen, dass es einlaufen will. Ich kann unzählige Häuser erkennen- und Jachten. Sind wir an einem Touristenort gelandet? Henry nimmt meine Hand und wir gehen an Deck. Der Wind bläst mir die Haare ums Gesicht, aber das stört mich nicht. Denn als wir im Hafen ankommen, wartet schon eine Kutsche auf uns.
„Ich hoffe, du magst Pferde", sagt Henry, als wir das Schiff verlassen. Der Kapitän winkt uns fröhlich hinterher.
„Guten Morgen allerseits", begrüßt uns der Kutscher auf Englisch. Ich mag seinen Akzent. Henry hilft beim Einsteigen in die Kutsche und wir fahren umgehend los. Zu dieser frühen Stunde sind noch keine anderen Menschen unterwegs. Ich könnt ja auch noch schlafen... Ich lehne mich aus dem Fenster, um mir alles genau anzusehen. Ich war noch nie in Frankreich und habe keine Ahnung, wo wir hier gelandet sind. Es ist auf jeden Fall idyllisch.
Ruckelnd nimmt die Kutsche einen Anstieg in Angriff. Henry sieht sich wie ich die Landschaft an.
„Wohin genau fahren wir?", will ich wissen, denn ich sterbe bald vor Neugier.
„An meinen Lieblingsort", antwortet er vage. Ach, soweit war ich auch schon! Ich hasse, wenn ich auf die Folter gespannt werde. Henry wird mir bestimmt nichts verraten, also sehe ich weiter schmollend nach draußen. Wir erreichen eine Anhöhe von der aus man das Meer in seiner endlosen Pracht bewundern kann. Ich sehe einen Wald vor uns auftauchen. Neben den typischen europäischen Bäumen gibt es aber auch Zierbäume, die ich noch nie gesehen habe.
„Wir sind gleich da", tröstet mich Henry. Die Bäume säumen eine Allee aus Sand und zwischen den Bäumen blitzt das Meer hindurch. Die Kutsche ruckelt über den Weg und hält schließlich einfach an. Im Nirgendwo.
„Wir müssen aussteigen, denn weiter fährt die Kutsche nicht", sagt Henry und reicht mir seine Hand. Kaum haben wir die Kutsche verlassen, wendet sie der Kutscher und fährt davon.
„Kommt die auch wieder?", frage ich und Henry nickt.
„Die lassen uns bloß allein an diesem Ort, damit wir es genießen können."
Aha, wie tröstlich. Henry geht voran mitten in den Wald hinein. Wenigsten trage ich bequeme Schuhe und keine High Heels, denn sonst wäre ich im Schlamm des Waldbodens versunken. Ein kaum erkennbarer Pfad führt uns immer tiefer in den Wald hinein. Wir beiden könnten Hänsel und Gretel sein, so wie wir durch den Wald irren. Selbst Henry scheint Schwierigkeiten zu haben, dem Weg zu folgen. Ich hätte Steine ausstreuen sollen...
„Da wären wir", sagt Henry plötzlich und ich sehe mich um. Vor uns öffnet sich der Wald zu einer Wiese auf der ein kleines Schlösschen steht. Strahlend weiß reflektiert es das Sonnenlicht und ich bin ganz geblendet von seiner Pracht.
„Es ist schön hier", sage ich ehrlich und freue mich, dass er es mir gezeigt hat.
„Lass uns hingehen. Amelie hat bestimmt etwas für uns vorbereitet", meint er und zieht mich mit sich.
„Wer ist Amelie?", frage ich. Ich dachte, wir wären in dieser Gegend mutterseelenallein, aber scheinbar leben hier noch andere Menschen. Irgendwie beruhigend.
„Meine Haushälterin natürlich", sagt Henry, als wäre es selbstverständlich, dass jeder eine Haushälterin hat. Also ich habe keine, bräuchte aber dringend eine. Ob Amelie in ihrer Freizeit mal zu mir kommt?
Wir betreten den hübsch angelegten Vorgarten und werden prompt von einem bellenden Fußabtreter begrüßt. Ich hasse Chihuahuas! Eine Freundin hatte so ein Monster zu Hause und als ich sie besuchen kam, verbiss sich dieses Vieh mit den Glubschaugen in meine Hose. Die konnte ich nachher wegwerfen. Insofern sind Chihuahuas nur Ratten in Übergröße. Aber Henry scheint mit dem Hund befreundet zu sein. Liebevoll streichelt er über den Kopf der Terror-Ratte, als wäre es ein süßes Kind oder so.
„Das ist Baby", stellt er mir den Hund vor. Natürlich – Baby. So würde ich den Hund nicht nennen. Bei mir würde er Jaqueline heißen. Dann kann ich mich hinstellen und rufen: „Renn nicht so schnell, Jaqueline, sonst kotzt du wieder!" Macht sich im Park bestimmt gut.
„Hallo, Baby, ich bin Viktoria", stelle ich mich nun meinerseits dem Hund vor. Als Antwort erhalte ich ein Bellen. Das furchteinflößende an Chihuahuas sind ihre Augen. Viel zu groß für den kleinen Kopf.
„Lass uns rein gehen", sagt Henry und nimmt meine Hand. Ist auch besser so, denn Baby und ich werden bestimmt keine Freunde. Das Schlösschen ist größer als ich zunächst dachte. Von weitem sieht alles klein aus, aber das habe ich dieses Mal wohl unterschätzt. Die Eingangshalle ist mit Porträts von längst verstorbenen Menschen vollgehangen und ich kann sie mir gar nicht alle ansehen, so schnell zieht Henry mich daran vorbei.
Der Grund für seine Eile ist rund, pausbäckig und trägt eine Kittelschürze. Amelie.
„Henry!", freut sie sich. „ Ich habe dich lange nicht mehr gesehen. Wo warst du nur? Und wer ist diese junge Frau an deiner Seite? Weiß deine Großmutter schon davon? Habt ihr Hunger? Wie lange wollt ihr bleiben? Habt ihr Baby gesehen? Bist du mit dem Jet da? Haben dich deine Freunde begleitet? Wo ist Pete?"
Diese Frau kann mit Worten töten, denn die schiere Anzahl an Fragen erschlägt einen.

Story of my Life - Ein englisches GeheimnisWhere stories live. Discover now