Nachdem wir das gesamte Schiff erkundet haben und ich nun jeden Winkel kenne, bin ich ganz schön hungrig. Henry führt mich ins Restaurant.„Ich habe mir erlaubt, das Essen schon vorzubestellen", sagt er. Dass er ständig die Kontrolle haben will, ist seine größte Macke. Ich bin erwachsen und durchaus in der Lage, mein Essen selbst auszuwählen. Aber ich sage nichts, denn ich will diesen Moment nicht zerstören. Im gesamten Restaurant brennen Kerzen. Durch die Fenster sehe ich den Sonnenuntergang.Henry schiebt meinen Stuhl zurück, damit ich mich setzen kann. Seine Manieren sind tadellos. Ich mustere ich unauffällig. Sein Haar ist rot wie meines und seine Augen blau. Ich liebe seine Augen. Er trägt einen einfarbigen dunkelblauen Pullover und eine dunkle Jeans.Damit sieht er vollkommen unauffällig und unschuldig aus. Doch ich weiß, dass er mir etwas Entscheidendes verheimlicht. Wenn ich dieses Geheimnis kennen würde, könnte ich ihn besser verstehen. Und vielleicht wären damit auch seine Eigenarten erklärt. Aber Henry ist einsehr verschlossener Mensch, der bestimmt nur schwer Kontakte knüpfen kann.„Ist was?", will er wissen. Wahrscheinlich war ich doch nicht so unauffällig.„Nein, nein. Ich habe nur nachgedacht", sage ich.„Worüber?"„Über dich", versuche ich es mit der Wahrheit.Fragend zieht er eine Augenbraue nach oben. „Das möchte ich jetzt aber genauer wissen."Das nächste Mal lüge ich!„Naja... ich habe mich gefragt, wer du wirklich bist", rücke ich mit der Sprach heraus. Ich weiß, dass der Zeitpunkt ungünstiger nicht sein kann, aber es brennt mir auf der Seele.Henry zögert, bevor er antwortet. „Tori, jeder hat seine Geheimnisse. Du doch bestimmt auch,oder etwa nicht?"Ich nicke. „Doch natürlich. Aber ich habe dir von Anfang an mein wahres Ich gezeigt."„Du meinst also, ich würde das nicht tun?", fragt er, plötzlich kühl. Ich habe es soeben versaut. Wunderbar! Manchmal ist die Wahrheit eben doch nicht die richtige Wahl.„Ich zeige mich nur wenigen Menschen von meiner privaten Seite, das habe ich dir schon gesagt. Ich dachte, du verstehst das!", fährt er aufgebracht fort.„Das tue ich auch!", erwidere ich beschwichtigend. „Es ist nur, dass ich das Gefühl habe, dass du mir etwas verschweigst. Klar, hast du Geheimnisse. Aber ich glaube, dass ich bisher nur an deiner Oberfläche kratze."Henry seufzt. „Ich bin nicht so oft mit anderen Menschen zusammen. Privat meine ich. Daher fällt es mir schwer, mich zu öffnen und transparent für andere zu sein."Offenbar nimmt er mir meine Ehrlichkeit nicht übel.„Ich wollte dich nicht ärgern, Henry. Aber ich wollte, dass du weißt, was ich denke", antworte ich.Das Essen wird serviert. Es gibt Fisch mit exotischem Gemüse und Reis. Aber das Essen interessiert mich eigentlich gar nicht.„Bist du sauer?", frage ich leise.„Nein, das bin ich nicht. Ich bin nur überrascht, dass du so etwas gedacht hast", sagt er. „Wir sollten über andere Dinge reden."Jetzt wäre der Moment, wo ich gegen diesen Vorschlag protestieren sollte. Aber ich tue es nicht. Ich will das nicht kaputt machen und er anscheinend auch nicht. Also nicke ich nur.Wir essen schweigend. Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont und die Laternen erleuchten das Außendeck. Wie weit sind wir wohl vom Festland entfernt? Fahren wir überhaupt oder steht das Schiff? Ich habe mich schon an das sanfte Schaukeln gewöhnt.Nachdem unser Geschirr abgeräumt wurde, sieht Henry mich nachdenklich an.„Willst du tanzen?"Ach je, bloß das nicht! Ich hasse tanzen, besonders diese Standardtänze wie Walzer.Grauenhaft!In der Schule mussten wir tanzen und es war eine Qual für mich. Zum Glück hatte mein Tanzpartner ähnliche Ansichten, weshalb wir stets in der letzten Reihe tanzen, wo wir nicht auffielen. Irrsinnigerweise bekamen wir gute Noten auf unsere Tänze, was wir beide nicht verstehen konnten.„Ich würde gern tanzen, aber ich kann es nicht. Es sei denn, du spielst Clubmusik, dann geht das", sage ich.„Wie tanzt du denn zu Clubmusik?", will Henry wissen. Damit kennt er sich sicherlich nicht so gut aus.„Ich kann ablachsen", sage ich und stehe auf, um es ihm zu zeigen. Ablachsen ist nichts anderes, als zur Musik zu wackeln, wie ein epileptischer Fisch. Henry lacht laut, als er mir dabei zusieht.„Ist das nicht peinlich?"„Nein, wenn das alle machen, wirkt das sogar richtig cool", erwidere ich kichernd. Er steht auf und macht es mir nach. Selbst dabei sieht er toll aus.„Ich werde dir lieber die richtigen Tänze beibringen", sagt er kopfschüttelnd. Schade, dann hat mein Ablenkungsmanöver also nicht funktioniert. Ich folge Henry in den Tanzsaal. Es hat etwas von „Die Schöne und das Biest", wie wir da so allein in dem riesigen Saal stehen. Nur das keine von uns das Biest ist.„Darf ich bitten?", fragt Henry formvollendet und ich reiche ihm meine Hand. Ich bete zu Gott, dass ich ihm nicht zu oft auf die Zehen treten werde.Kaum stehen wir in Position, wird das Licht gedämmt und die Musik setzt ein. Also wirklich,er hat alles organisiert! Behutsam lenkt Henry meine Schritte ihm langsamen Rhythmus des Walzers. Ich würde mich gern auf das Tanzen konzentrieren, aber wenn ich ihm so nahe bin,gehen mir andere Gedanken durch den Kopf. Wie wäre es wohl seine weichen Lippen zuküssen? Seinen Körper zu berühren? In seinen Armen zu liegen? Benehme dich, weise ich mich selbst zurecht. Er gibt sich große Mühe, mir das Tanzen beizubringen und ich denke an sowas wie küssen oder mehr.„Autsch!", ruft Henry. Sein Aufschrei weckt mich aus meinen Gedanken.„Entschuldigung", sage ich besorgt und gehe einen Schritt zurück. „ Ich bin eine miese Tänzerin."„Nein, das bist du nicht", will er mir weismachen. „Du warst nur unkonzentriert, das ist alles.Lass es uns nochmal versuchen."Ich reiche ihm meine Hand und er führt. Dieses Mal konzentriere ich mich.Irgendwie schaffen wir es, das Stück durchzuhalten, ohne, dass ich ihm seine teuren Schuhe ruiniere. Ich bin selbst ganz überrascht von mir.„Das hast du gut gemacht", sagt Henry, sein Gesicht ganz nah an meinem. Ich spüre seinen Atem auf der Wange.„Danke. Du bist ein guter Lehrer", meine ich. Sein Parfüm umhüllt mich wie ein Kokon. In seinem Armen fühle ich mich sicher.„Und du die bezauberndste Tanzpartnerin auf der ganzen Welt", flüstert er in mein Ohr und ein Schauer läuft meinen Rücken hinab. Ich merke, wie seine Hand weiter nach unten wandert, während sein Gesicht sich meinem nähert. Elektrisiert wende ich mein Gesicht seinem zu und schließe die Augen.Wie ein Feuerwerk treffen unsere Lippen aufeinander und öffnen sich, damit sich unsere Zungen berühren können. Abertausende Gefühle durchfluten meinen Körper, aber vor allem eines füllt mich gänzlich aus: Liebe.„Du machst mich glücklich, weißt du das?", fragt Henry leise, als er sich von mir löst.Bis jetzt wusste ich es nicht.„War es sehr schlimm?", frage ich.Verwirrt sieht Henry mich an. „Was war schlimm?"„Der Kuss."Ich weiß, das hört sich jetzt naiv und dumm an, aber ich muss es einfach von ihm wissen. Was ist, wenn er mir nur Komplimente macht, um mich vor der grausamen Wahrheit zu beschützen?Henry lacht. „ Tori, der Kuss war wunderbar. Ich frage mich sogar, warum ich dich nicht schon viel eher geküsst habe!"Errötend senke ich den Blick. „Okay, da bin ich zufrieden."„Du bist eine fantastische Frau, also zweifle nicht zu sehr an dir selbst, ja?"Ich nicke. Das sollte ich wirklich nicht tun.Henry drückt mir einen zarten Kuss auf die Stirn. „Lass uns schlafen gehen. Morgen müssen wir früh aufstehen!"Bereitwillig folge ich ihm zu unserer Luxussuite. Diese ist bei unserer Ankunft in schummriges Licht getaucht, was sie noch gemütlicher macht.„Willst du zuerst ins Bad?", frage ich ihn. Henry zuckt nur mit den Schultern.„Ladys First", meint er dann, also verschwinde ins Bad. Statt mir die Zähne mit einer der bereitgestellten Zahnbürsten zu putzen, setze ich mich an den Rand der Badewanne und vergrabe das Gesicht in den Händen.Wir haben uns geküsst! Ich kann es immer noch nicht fassen und werde es wohl nie verstehen. Es war so, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Für mich war es der erste Kuss,für Henry bestimmt nur einer von vielen. Aber was bedeutet das jetzt für uns?Sollen wir an dieser Stelle besser aufhören oder geht es gerade erst los? Ich kann mir ein Leben ohne Henry inzwischen nicht mehr vorstellen. Wir hatten unsere Probleme und schafften es trotzdem, uns zu verzeihen. Klar, er ist eigenartig – und einzigartig. Aber das bin ich wohl auch. Wenn er meine Macken akzeptieren kann, kann ich seine ebenfalls akzeptieren. Doch ein Problem habe ich nach wie vor: er verheimlicht mir etwas, das ich unbedingt wissen muss, um ihn besser zu verstehen. Henry ist mir gegenüber offener, als anderen Menschen, behauptet er immer. Nur wie soll ich ihm das glauben, wenn ich kaum andere Menschen kenne, die ihn so gut zu kennen glauben wie ich. Seine Freunde sind mehr sowas wie Angestellte, habe ich das Gefühl. Ob er überhaupt echte Freunde hat? Wer ist seine Familie? Für welche Firma arbeitet er oder ist er selbstständig?Würde ich ihn danach fragen, bekäme ich nur ausweichende Antworten. Vertrauen scheint nicht so sein Ding zu sein.Ich raffe mich dazu auf, meine Gedanken zu verscheuchen und gehe zum Waschbecken. Den ganzen Tag habe ich nicht an die Kühe und an Henrys „Freunde" gedacht. Wie es ihnen wohl geht?Ich putze mir die Zähne und gehe auf Toilette. Dann öffne ich die Badezimmertür. Henry hat es nicht bemerkt, weil er gerade telefoniert. Unbemerkt gehe ich zum Bett.„Nein, ich kann jetzt nicht zu euch kommen, Will", sagt Henry genervt. „ Ich habe geradeeine Besprechung in Frankreich. Du weißt schon, für Mom's Organisation."Wie bitte? Er hat eine Besprechung? Wieso erzählt er seinem Bruder nicht, was er wirklich tut?„Keine Ahnung, wie lange das dauert. Ich bin doch nicht dein Sam! Wozu hast du deine Angestellten?", fährt Henry seinen Bruder an. Anscheinend verstehen sie sich doch nicht so gut, wie ich bislang dachte.„William, ich kann mich jetzt nicht mit dir streiten. Warten wir damit, bis ich zurück bin,okay?", fährt Henry versöhnlich fort. Doch dann schlägt seine Stimmung wieder um.„Es ist mir gerade egal, was die Queen von mir will!"Die Queen? Was bitte sollte denn die Queen damit zu tun haben? Die spinnen, die Briten.Ich lege mich ins Bett und beobachte ihn beim Telefonieren.Dann dreht er sich plötzlich um und erstarrt, als er mich sieht.„Ich muss auflegen", sagt er schnell. „Du bist schon fertig."Begeisterung sieht anders aus. Henry sieht aus, als hätte ich ihn bei irgendwas ertappt.„Ja, ich habe mich beeilt", sage ich. Das ist nur eine halbe Lüge. Ich habe mich nicht beeilt,aber ich war zumindest schneller als sonst fertig.„Okay, dann geh ich mal duschen", sagt er und sieht erschöpft aus.„Verzeih mir dir Frage: aber was meintest du vorhin damit, die Queen kann dich mal?", frage ich neugierig. Mir ist bewusst, dass er mir nicht ehrlich antworten wird, aber ich muss es wissen.Henry ist in der Tat nicht erfreut über diese Frage.„Wir nennen unsere Großmutter Queen. Das macht fast jeder Brite, weil alle die echte Queen so lieben", meint er und ringt sich ein Lächeln ab. „Sie kann sehr anstrengend sein, meine Großmutter."„Das kenne ich", sage ich. Meine Oma hat wahrhaft das Zeug zur Königin. Sie kann wie kein anderer Menschen herumkommandieren und hat alles unter Kontrolle. Trotzdem liebe ich sie.„Dann wirst du auch verstehen, wie schön sich Freiheit anfühlt", sagt er und fängt an, sich seiner Kleidung zu entledigen.Ich bin völlig abgelenkt von seinem schönen Körper, aber ich versuche, mich auf seine Worte zu konzentrieren.„Ich kann es nachvollziehen, ja. Aber willst du damit sagen, dass deine Großmutter dich herumkommandiert?"Nun steht er nur noch in Unterwäsche da. Für mich sieht er aus wie ein Engel, so weiß ist seine Haut und seine roten Haare leuchten im Kontrast dazu. Nur sein müdes Gesicht zerstört mein Bild ein bisschen. Am liebsten würde ich aufstehen und ihn berühren, aber ich halte das im Moment für keine gute Idee.„So in etwa. Und ich kann nichts dagegen tun, außer ihr zu gehorchen. Moderne Sklaverei sozusagen. Will ist da ganz anders. Ihm macht es nichts aus, kommandiert zu werden.Deswegen steht er auch in Großmutters Gunst."Das tut mir leid für ihn. Henry ist niemand dem man sagen kann, was er zu tun hat. Und das macht ihn bei seiner Familie scheinbar unbeliebt. Ist er deshalb so verschlossen? So unantastbar?„Ich weiß nicht, was ich sagen soll", sage ich leise.„Du musst gar nichts sagen. Ich habe dir bereits zu viel erzählt", meint er und verschwindet im Bad.Ich habe ihn ja nicht zum Reden gezwungen. Er fing von sich aus an. Da kann ich wohl nichts dafür!Frustriert wickele ich mich in die weiche Decke. Er kann mich mal. Wenn er sich mir gegenüber nicht öffnen kann und mir nicht vertraut, wird aus nichts.Das werde ich ihm gleich sagen, wenn er wieder kommt. Morgen werden wir zurück segeln und er kann sehen, was er davon hat. Idiot!Ich bin bereits am Einschlafen, als Henry aus dem Bad kommt. Ich kann sein Duschbad riechen.„Viktoria?", fragt er leise.Ich schweige und schließe die Augen.Henry seufzt und nähert sich dem Bett. Ich spüre, wie er sich auf die Matratze legt und sich zudeckt. Dann berühren seine Lippen zärtlich die meinen und ich muss mich zusammenreißen, um den Kuss nicht zu erwidern. Denn eigentlich schlafe ich ja.
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Story of my Life - Ein englisches Geheimnis
RandomTori beginnt ihren neuen Lebensabschnitt als Au-Pair in Irland. Sie ist ein lebensfrohes Mädchen, sie liest gerne und hat eine interessante Art, Menschen und Situationen sachlich einzuschätzen und zu beschreiben. Durch ihr Äußeres passt sie...