Kapitel 9

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  Als Absender lese ich Henrys Namen. Wieso tut er das? Will er, dass ich ein schlechtes Gewissen habe?Aber da ich neugierig bin und gerne Geschenke auspacke, öffne ich das Päckchen trotzdem.Ich stelle mir alles Mögliche als Inhalt vor: Schmuck, Kleidung, Schokolade, Schuhe, ein Buch...Doch als ich die Pappe auseinander reiße, kommt ein Kuvert zum Vorschein. Niemand macht sich die Mühe, einen Brief in ein Päckchen zu stecken und dadurch mehr Porto zu bezahlen.Henry hat anscheinend eine Menge Geld, das er sinnlos zum Fenster rauswerfen kann.Schnell öffne ich den Umschlag und ziehe zwei längliche Tickets heraus. Zumindest sieht es so aus, als wären es Tickets. In Wahrheit handelt es sich um Karten für eine Kreuzfahrt. Eine Kreuzfahrt?! Echt jetzt? Ich suche, ob es nicht doch noch Schokolade gibt, aber nein, das war alles. Was soll ich auf einer Kreuzfahrt? Ich habe weder Zeit noch will ich dort mit ihm hin.Eine Entschuldigung sieht anders aus. Auf der Karte steht, dass es nächstes Wochenende losgeht und zwei Tage dauert. Wir würden es in dieser Zeit bis Frankreich schaffen und wieder zurück. Ich will das nicht! Über eine ehrlich gemeinte Entschuldigung hätte ich mich viel mehr gefreut, als über so einen Bestechungsversuch. Henry kann einfach nicht anders. Er kann nicht wie die anderen Menschen sein und in kleinen Dimensionen denken. Eine Kreuzfahrt zur Versöhnung ist einfach nicht realistisch! Und ich sehe auch gar nicht ein, diese Einladung anzunehmen. Nächstes Wochenende muss ich das Haus hüten und kann nicht weg. Declan hatte mich ja gebeten, mich um seine Kühe zu kümmern. Somit ist es nicht mal eine Ausrede, wenn ich nicht mitfahre. Wie bedauerlich für Henry!Ich werfe die Karten samt Karton in den Papierkorb. Vielleicht ist das auch alles nur ein blöder Scherz von ihm und er will mit seinem Reichtum angeben. Darauf falle ich nicht rein.Soll ich ihm jetzt schreiben, dass ich sein Päckchen bekommen habe? Ich raffe mich tatsächlich dazu auf und tippe eine Nachricht, mit der ich klar stellen will, was ich davon halte.Habe dein Päckchen bekommen. Was fällt dir eigentlich ein, mir Karten für eine Kreuzfahrt mit dir zu schenken? Ich bin nicht käuflich und werde deshalb auch nicht mitmachen. Im Gegensatz zu dir muss ich arbeiten!Ich hoffe, das hat gesessen. Wenn er eine Frau will, die sich aushalten lässt, soll er sich eine neue suchen.Es dauert nicht lange, bis er antwortet.Viktoria, es tut mir wirklich aufrichtig leid. Ich dachte, eine Kreuzfahrt gefällt dir und würde dir Spaß machen. Wir könnten dort über alles reden.Aha, er will also über alles reden. Na klar. Ich wollte schon die ganze Zeit über alles reden,aber er ist nicht in der Lage zu erkennen, wann Frauen schmollen.Dann hättest du mich nicht aus dem Hotelzimmer werfen sollen.Lang lang ist's her, dass er mich wegen einer Besprechung hat sitzenlassen. Ich dachte anfangs, aus könnte was werden, aber dann hat er es kaputt gemacht.Tori, du verstehst das nicht, das ist alles nicht so einfach. Es ging an diesem Tag nicht anders. Und dann lässt er sich auch noch solche Standardausreden einfallen.Warum denn nicht? Du hast jetzt die Chance, es mir zu erklären.Ich wette innerlich, dass er wieder eine ausweichende Antwort gibt.Das ist kompliziert...Das kann ich dir nicht schreiben, sondern muss es dir erzählen, wenn wir ungestört sind.Wette gewonnen! Wenn das im Lotto auch so einfach wäre. Frustriert starre ich mein Handy an.Hast du Angst, abgehört zu werden, oder was?Da es eine geschlossene Frage ist, kann es nicht so lange dauern, zu antworten.JA!Wusste ich's doch. Männer können keine komplizierten Satzgefüge schreiben.Wir sind beide zu unbedeutend, um abgehört zu werden. Aber wenn du dich vor einer Entschuldigung drücken möchtest...Ich kann wirklich gemein sein, wenn es sein muss. Da kenne ich weder Freund noch Feind.Und Henry ist momentan weder Freund noch Feind, er befindet sich irgendwo dazwischen.Tori, bitte, versteh doch. Ich kann es dir nicht schreiben und auch nicht am Telefon erklären.Im Gegensatz zu dir bin ich bedeutend genug, um abgehört zu werden.Autsch, das tat weh. Aber eine für ihn freundliche Entschuldigung folgt schnell:Tut mir leid, das meinte ich eben nicht so! Ich habe gerade nicht nachgedacht. Wie so oft,wenn ich mit dir schreibe oder zusammen bin. Na gut, das kann ich ihm verzeihen. Ich habe ihn vorhin auch beleidigt. Also sind wir diesbezüglich quitt.Schon okay. Ich will nur endlich wissen, was damals los war. Warum ich so überstürzt gehen musste. Ich klinge richtig versöhnlich und hoffe, dass er auf meinen Zug aufspringt, damit ich endlich ans Ziel komme. Aber Henry ist eben Henry.Das erkläre ich dir auf der Kreuzfahrt. Versprochen! Gib mir diese Chance, um mich dir zu erklären. Schade, daneben gesprungen.Ich kann aber nicht mit auf diese Kreuzfahrt. Meine Gasteltern sind an dem Wochenende nicht da, sodass ich auf die Kühe aufpassen muss.Das ist die Wahrheit. Declan wäre sehr enttäuscht von mir und das will ich nicht.Haben die denn keine Angestellten, die sich darum kümmern?Also manchmal frage ich mich, von welchem Planeten er kommt. Angestellte? Wir haben hier ja keine Milchindustrie, sondern nur eine Farm und das weiß er auch.Nein, haben sie nicht. Es sei denn, du zählst mich zu ihren Angestellten: ich bin ihr kleiner Hauself. Kannst mich ja Dobby nennen!Mal sehen, was er dazu sagt.Ich würde dich niemals eine Magd ansehen. Du bist vielmehr eine geborene Prinzessin. Stolz,eingebildet und intrigant!Als ich das lese, bleibt mir die Sprache weg. Das gibt's doch nicht! Er kann tatsächlich verbal zurückschlagen. Ehrlich gesagt, habe ich nicht damit gerechnet, dass er mir Konter gibt. Er muss wirklich gereizt sein. Gut so.Ach ja? Und du bist der geborene Prinz: arrogant, protzig und falsch!Kaum habe ich das gesendet, tut es mir auch schon leid. Wenigstens das Falsch hätte ich weglassen sollen. Der Rest stimmt ja irgendwie.Ich bin FALSCH? Was bist du dann? Du tust so, als könntest du mich leiden und dann brichst du wochenlang den Kontakt ab, nur weil du dich wegen einer Kleinigkeit so aufregst. Ich schicke dir ein Geschenk zur Entschuldigung und du nimmst es nicht an. Gib doch zu, dass du mich nur meines Geldes und Status wegen ausgenutzt hast!Das ist jetzt nicht sein ernst. Erst will mir keine ordentliche Erklärung für sein Verhalten geben, weil er Angst vor dem Abhören hat. Aber einen Streit anfangen, das kann er.Henry, ich habe dich nicht ausgenutzt! Als wir uns kennenlernten, habe nicht gewusst, dass du Geld hast und ein Geschäftsmann bist. Ich fand dich einfach nur nett und mehr brauchte es nicht, damit ich mit dir reden wollte. Du interpretierst da zu viel rein! Und ich schmollte mit dir, weil ich es unverschämt fand, wie du mich aus dem Hotelzimmer geworfen hast. Ohne Erklärung. Das hat mich sehr verletzt.Darüber kann er erstmal nachdenken.Vielleicht interpretiere ich tatsächlich zu viel in diese ganze Geschichte rein. Ich bin es nun einmal so gewohnt. Du bist ungewohnt für mich, denn du interessierst dich nicht für die Person, die ich in der Öffentlichkeit bin, sondern für die Person dahinter. Für den privaten Henry. Dafür bin ich dir sehr dankbar und du sollst wissen, dass du einen besonderen Platz in meinem Herzen eingenommen hast, Viktoria. Ich weiß, ich war unverschämt zu dir und kann verstehen, dass du Zeit zum –wie du es nennst- schmollen brauchtest. Aber ich bin es leid,ohne deine lustigen Geschichten und dein Lächeln zu leben. Kannst du mir verzeihen?Das ist die süßeste und wahrscheinlich ehrlichste Nachricht, die ich je von ihm bekommen habe. Ich glaube ihm jedes Wort, auch wenn er bestimmt alles wieder dramatisiert hat.Besonders die Stelle: ... denn du interessierst dich nicht für die Person, die ich in der Öffentlichkeit bin, sondern für die Person dahinter. Für den privaten Henry...finde ich sehr theatralisch.Ich überlege nicht lange, sondern schreibe ihm das zurück, was mir auf der Zunge liegt.Ich verzeihe dir. Aber versaue es nicht wieder.Ich erhalte von Henry eine letzte Nachricht mit unzähligen Herzchen und Küsschen und anderen Smileys, mit denen er seine Erleichterung ausdrückt.Dass ich so lange mit schmollen durchgehalten habe, hat mich selbst erstaunt. Ich bin ungern nachtragend, wirklich.Dann sehen wir uns nächste Woche zur Kreuzfahrt!Bitte nicht. Muss er jetzt davon anfangen?Ich kann wirklich nicht dabei sein. Das mit den Kühen war keine Ausrede.Aber das scheint Henry egal zu sein.Ich kümmere mich schon darum. Lass das meine Sorge sein. Ich habe genügend Angestellte,die das für dich übernehmen. Soll ich mit deinen Gasteltern darüber reden?Ach du liebe Güte, bloß nicht! Die denken sonst, ich wäre zu faul zum Arbeiten.Das muss echt nicht sein. Lass meine Gasteltern in Ruhe, die kennen dich nicht mal. Ich komme schon zurecht.Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass Henry in einer völlig anderen Dimension lebt. Er hat immer jemanden, der für ihn ungeliebte Aufgaben erledigt und wie es aussieht, sind seine Angestellten nicht mal ausgelastet, weshalb er sie mir zur Verfügung stellen kann. Ob er ein guter Boss ist?Wie du willst. Dann suchst du dir deine Vertretung eben selbst aus, kein Problem.Wie bitte? Ich wollte damit eigentlich sagen, dass ich nicht mitkomme. Warum kann er kein schlichtes nein akzeptieren? Drücke ich mich etwa so undeutlich aus?Ich. Komme. Nicht. Mit. Deshalb. Brauche. Ich. Auch. Keine. Vertretung!Das sollte idiotensicher sein, hoffe ich. Einwortsätze sollte Henry verstehen.Ich. Habe. Dich. Verstanden. Wir. Werden. Einen. Weg. Finden. Na toll! Einsicht zeigt er gar keine. Ich beschließe, ihm nicht mehr zu antworten. Er nimmt mich gar nicht ernst und das nervt mich. Henry soll akzeptieren, dass ich nächstes Wochenende nicht mit ihm auf Kreuzfahrt kommen kann und es ist vermessen von ihm, zudenken, dass ich immer springe, wenn er ruft. Es gibt so vieles an ihm, was mich stört, aber gleichzeitig auch fasziniert. Ich weiß ja, dass ich nicht gerade eine unkomplizierte Person bin,aber ich bin nicht so verkorkst wie Henry. Ich versuche, ihn zu verstehen und hinter seine Fassade zu blicken, aber es ist schwer. Mal habe ich das Gefühl, ihn zu kennen und durchschauen zu können, aber im nächsten Moment ist es wieder anders. Das macht mich ganz fertig. Dieser Mann ist aufregender als jeder Horrorfilm. Bei den Filmen weiß man wenigstens, wie sie enden. Aber wie wird das mit uns enden? Wird es überhaupt enden? Dazu müsste es erstmal anfangen. Vielleicht hat es das schon und ich habe es nur nicht bemerkt.Mein Leben ist derzeit einfach viel zu verwirrend. Ich sehe selbst nicht mehr durch.Weiß ich, wer Henry wirklich ist? Bisher kenne ich nur Eckpunkt seines Lebens. Nichts Konkretes und schon gar nichts Privates. Ich habe das Gefühl, nur den öffentlichen Henry zu kennen. Ich kann ja nicht wissen, wie sehr ich mich dabei täusche...  

Story of my Life - Ein englisches GeheimnisWhere stories live. Discover now