6 Verzweiflungstaten

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Erst, als von den grünen Gestalten niemand mehr zu sehen oder zu hören war, traute ich mich zurück auf unsere Lichtung, um dort den Boden zu untersuchen. Ich war eine gute Spurenleserin, aber trotzdem war es schon kurz vor Mitternacht und stockfinster, als ich endlich das Versteck der geheimnisvollen Krieger ausfindig gemacht hatte. Mein Plan, wenn man es denn so nennen wollte, war, die zwei Hobbits heimlich zu befreien und mich mit ihnen davonzustehlen, bevor irgendjemand irgendwas merkte.

Ich realisierte allerdings ziemlich schnell, dass ich mir mein Vorhaben abschminken konnte. Das Versteck war in einer Grotte hinter einem tosenden Wasserfall gelegen, dessen Rauschen die zahlreichen Stimmen von drinnen nur schwer übertönen konnte. Es mussten mindestens hundert Männer in dieser Grotte sein. Da bekam ich Frodo und Sam doch nie raus. Schöne Scheiße.

Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, schlich ich eine Weile um die Höhle herum, in der Hoffnung, vielleicht einen Hintereingang oder sowas zu finden. Fehlanzeige. Irgendwann gab ich es auf, und beschloss den Tagesanbruch abzuwarten. Vielleicht brachen die Waldläufer (denn das mussten sie sein, so lautlos und beinahe unbemerkt, wie sie sich bewegten) dann ja wieder zu einem spontanen Angriff auf und ließen ihre Gefangenen unbewacht. Mit dieser vagen Hoffnung im Bauch krabbelte ich, mal wieder, in ein Gebüsch gegenüber des Wasserfalls, um dort ein bisschen zu schlafen, als ich Schritte hörte. Obwohl sehr leise, waren die Einen doch eindeutig menschlich, die anderen, kaum hörbar, aber... Das gab es doch nicht. Ich lugte zwischen den Ästen meines Buschs hindurch und, wirklich, da stand mein kleiner Frodo neben einem ziemlich großen Mann. Der Stimme nach war es wieder der Anführer. Er stand mit dem Rücken zu mir und deutete auf den Teich unten.

„Allein, herzukommen und den verbotenen Weiher zu betrachten schließt die Todesstrafe ein.", hörte ich ihn sagen, und dann auf die Sträucher ringsum zeigen. Mein Blick folgte seinen Bewegungen. Unten im Tümpel fing sich Gollum gerade einen Fisch. Aha, der sollte jetzt wohl abgemurkst werden. Die Bogenschützen sah ich diesmal auch, obwohl sie sich wirklich gut versteckt hielten. Aber weiße Bogensehnen haben es nunmal an sich, im Mondlicht zu leuchten.

Frodo sah sie auch und machte ein ratloses Gesicht. Ich musste etwas tun, und zwar schnell. Leider war die einzige Idee, die mir spontan in den Sinn kam, ziemlich waghalsig und mehr als dumm. Aber was sollte ich tun? Der Anführer hob seinen Arm, wie zum Signal.

Ich griff nach dem Messer an meiner Seite, schlich aus meinem Versteck und bewegte mich, so lautlos, wie möglich auf den Mann zu.

„Soll ich schießen lassen?", fragte der. Ich trat an ihn heran, zog ihn mit dem linken Arm an mich und hielt ihm mit der rechten Hand das Messer an die Kehle.

„Nein, sollst du nicht.", zischte ich ihm ins Ohr. Ich spürte, wie seine Muskeln sich anspannten. Langsam ließ er den Arm sinken. „Du pfeifst deine Männer zurück, und lässt die Hobbits und die Kreatur da unten gehen, wenn du noch ein Stück weiterleben willst." Wow, ich konnte ja richtig böse klingen. Das fand Frodo wohl auch. Er machte große Augen und schaute von meiner Geisel zu mir. Ich versuchte, das Messer in meiner Hand nicht zittern zu lassen. Hoffentlich merkte der Kerl nicht, wie heftig mein Herz klopfte. Und warum bitte war der einzige Gedanke, der mir im Moment in den Kopf kam, dass der Mann da vor mir ziemlich gut roch? Ich hatte doch gerade wirklich Wichtigeres zu tun.

„Mia.", flüsterte Frodo, und ich schüttelte den Kopf.

„Lass sie gehen.", sagte ich nocheinmal.

Seltsamerweise schien mein Gefangener ganz gelassen zu sein. „Ich wusste doch, dass Ihr mehr als Euren Gärtner und dieses hässliche Wesen da unten als Begleitung habt.", sagte er belustigt, „Dann sollte ich mich jetzt wohl ergeben, was?". „Allerdings.", zischte ich, und dann ging mal wieder alles so schnell, dass ich gar nicht merkte, was passierte, bis es schon passiert war.

Ich sah es nicht kommen, ich merkte nur, wie etwas nach meinem Arm griff, ich herumgewirbelt und schließlich zu Boden geworfen wurde. Das Messer fiel aus meiner Hand. Der Mann, den ich eben noch fest in der Gewalt zu haben glaubte, hatte nun mich in der Gewalt. Er drückte mich ins Gras und verdrehte meinen Arm ziemlich schmerzhaft auf meinem Rücken. „Autsch.", stöhnte ich leise, dann wurde ich wieder auf die Füße gezogen, ohne, dass sich an dem stählernen Griff etwas geändert hätte. Eine kühle Klinge legte sich an meinen Hals. Mein eigenes Messer. Das war bitter. So schnell konnte es gehen.

Die tiefe Stimme des Anführers der Waldläufer ertönte jetzt hinter mir. Ich spürte beim Reden seinen Atem an meinem Hinterkopf.

„Also, Herr Beutlin. Wen soll ich zuerst töten? Euren fischenden Freund da unten oder eure Assassinenfreundin hier?" Letzteres war eine ziemlich blöde Idee, fand ich, aber mich fragte ja keiner.

Frodo sah verzweifelt aus.

„Nein! Bitte nicht!", rief er plötzlich, beinahe panisch, „Lasst sie am Leben. Beide." Er schaute hinunter aufs Wasser, wo Gollum immernoch fröhlich vor sich hinplanschte: „Ich bin an dieses Geschöpf gebunden. Und es an mich. Er führt uns. Und..." Sein Blick wanderte wieder zu mir, „Auch sie begleitet mich. Als... meine Leibwächterin."

„Eure Leibwächterin?", fragte es hinter mir, und ich verzog den Mund. Den spöttischen Klang konnte er sich sparen, ich wusste auch so, dass ich auf ganzer Linie versagt hatte.

„Bitte. Lasst sie am Leben. Und lasst mich hinunter zu ihm. Ich kann mit ihm reden.", flehte Frodo. Scheinbar hatte er eine Zustimmung erhalten, denn die Klinge an meinem Hals war plötzlich verschwunden.

Ich hörte ein leises Pfeifen hinter mir, dann merkte ich wie ein kratziges Seil fest um meine Handgelenke geschlungen wurde. Anschließend wurde ich einem der Bogenschützen zugeschubst, der wohl vorhin im Gebüsch gesessen und dem dieser Pfiff gegolten hatte.

„Bring sie in mein Versteck. Ich rede später mit ihr.", sagte der Anführer, dann wurde ich weggebracht.


A Bit Of Lost Love/ #Wattical Award 2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt