16 Der Albtraum kommt nach dem Erwachen

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Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich wieder zusammengerollt auf dem kleinen Sofa in Faramirs Zimmer. Durch die Fenster drang schwaches Licht herein. Der Morgen brach an. Als ich mich aufsetzte und streckte, stellte ich überrascht fest, dass tatsächlich jemand eine Decke über mir ausgebreitet hatte.

Aber das hatte ich doch nur geträumt oder? Fragend schaute ich zu Faramir, fast erwartete ich, sein Bett leer vorzufinden, aber dem war nicht so. Die einzige Veränderung an Faramir war, dass er sich auf die Seite gedreht hatte und nun mit dem Gesicht zu mir lag.

So leise ich konnte, stand ich von meiner Schlafstätte auf und schlich aus dem Zimmer. In der Tür warf ich noch einen letzten Blick auf den schlafenden Faramir, bevor ich mit klopfendem Herzen den Weg in mein Zimmer suchte.

Aber wenn ich gestern durch dieses Haus gelaufen war, als ob ich genau wüsste, wohin ich gehen muss, dann hatte mich dieser neugewonnene Orientierungssinn jetzt wieder verlassen und so irrte ich durch die weißen Gänge, bis mich schließlich ein freundlicher Krankenpfleger zurück in mein Zimmer führte (Ein Stockwerk weiter oben und drei Flure weiter), wo ich mich sofort wieder auf mein Bett fallen ließ. Dieser kleine Ausflug hatte mich dermaßen erschöpft, dass ich am liebsten gleich wieder eingeschlafen wäre. Wenn ich gekonnt hätte.

Aber kaum, dass ich meinen Kopf aufs Kissen bettete, überkam mich wieder dieselbe Unruhe wie am Vortag. Es war, als hätte ich noch etwas Wichtiges zu erledigen, von dem ich wüsste, dass es unbedingt getan werden muss, könnte mich aber nicht daran erinnern, was es war oder mich zumindest nicht dazu durchringen, es zu tun. War ich gestern wirklich nur rein zufällig in Faramirs Zimmer gelaufen? Ich bezweifelte es. Und jetzt, je länger ich darüber nachdachte, desto mehr bereute ich es, heute Morgen einfach wieder gegangen zu sein und umso mehr schämte ich mich dafür, Angst vor Faramirs Erwachen gehabt zu haben.

Der Pfleger von vorhin kam wieder, um mir zu berichten, dass Faramir aufgewacht sei und bereits vom Bett aufstehen konnte. Die Nachricht erfüllte mein Herz mit ungeahnter Freude, trotzdem fragte ich mich, warum sie mir überbracht wurde. Keiner hier wusste, in welchem Verhältnis ich zu Gondors Heermeister stand. Ich selbst wusste es ja am Wenigsten. Ich wusste nur, in welchem Verhältnis ich gerne zu ihm stehen würde. Aber dafür müsste ich...

Eine ungeahnte Euphorie erfasste mich, wie jemanden, dem nach langem Grübeln die Lösung zu einem schwierigen Rätsel einfällt, und gleichzeitig eine seltsame Unzufriedenheit, als mir klar wurde, was mich die ganze Zeit beschäftigte.

Ich musste noch einmal mit Faramir reden. Ganz in Ruhe, ohne Tränen und Gestammel. Ich musste ihm erklären, was passiert war und was ich warum getan hatte und ich musste ihn noch einmal um Verzeihung bitten. Selbst, wenn er mir die verwehrte, hatte ich dann doch alles getan, was ich konnte, um mich mit ihm zu versöhnen. Und es gab nichts, was ich lieber tun wollte. Mit einem traurigen Seufzen erinnerte ich mich an die seltsam vertraute Nähe, die ich von Anfang an zu diesem Mann empfunden hatte. Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ all unsere Begegnungen und Gespräche noch einmal durch meine Gedanken ziehen. Ich hätte Faramir viel eher reinen Wein einschenken sollen, wurde mir klar. Er musste mich ja zwangsläufig für einen egoistischen Feigling halten. Für nichts anderes hielt ich mich selbst. Und daran würde sich auch nichts ändern, wenn ich hier weiter auf dem Bett lag und in Tagträumen versank, die schon lange nichts mehr mit dem, was ich wirklich erlebt hatte, zu tun hatten.

Also sprang ich entschlossen vom Bett, trank einen kleinen Schluck Wasser aus dem Becher auf meinem Nachttisch und machte mich erneut auf den Weg in Faramirs Zimmer. Wie am Abend zuvor lief ich einfach blindlings den Flur entlang, im Vertrauen darauf, dass meine Füße schon den richtigen Weg finden würden. Tatsächlich stand ich nach wenigen Minuten vor Faramirs Tür, die nur angelehnt war. Von drinnen hörte ich Stimmen, ein leises Flüstern. Dann war er also nicht allein. Er unterhielt sich mit jemandem. Ich sollte wieder gehen, dachte ich, es gehört sich nicht, andere Leute auszuhorchen. Komm einfach später wieder.

A Bit Of Lost Love/ #Wattical Award 2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt