Kapitel 11

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"Wie kommts?", sah ich zu ihm und er hörte auf meine Haare zu streichen, denn nun strich er über meine Unterlippe.
"Du hälst zu mir, obwohl ich ein Bastard zu dir bin."
"Ja das bist du."
"Aber selten", ergänzte ich.
Fies grinste er.
"Soll ich dir weiter erzählen?"
Ich nickte und legte mich wieder auf seine Brust.
"Trotz, dass ich ein hoffnungsloser Fall war, haben meine Eltern gehofft, ich würde mindestens mein Realabschluss schaffen, aber ich war viel mehr auf mein Image fokussiert. In der neunten und zehnten ging es erst richtig los. Mit meinen Freunden provozierte ich andere, damit Schlägereien stattfinden. Wir haben geschwänzt, Böller in der Schule platzen lassen und den Schülern das Leben zur Hölle gemacht. Wir haben geraucht und in der Raucherecke fing mein erstes Dealen an. Nach drei Anhörungen flog ich und weil meine zehn Pflichtjahre voll waren, beschloss ich, niewieder mehr in die Schule zu gehen. Stattdessen dealte ich und es entwickelte sich ein Geschäft. Wir waren wie Drogenbosse. Wir hatten die besten Kommunikationen, kannten die besten Männer, aber hier in Köln gibt es auch andere Gruppen. Wir sind verfeindet, weil sie neidisch sind. Ich verdiene mir hauptsächlich das Geld so, aber meinem Vater habe ich keinen Mucks erzählt. Er hat mir angeboten bei sich zu arbeiten, aber da gehe ich nur einmal die Woche hin."
"Du solltest deinem Vater statt deinen Freunden beistehen", hauchte ich.
"Mein Vater redet nicht viel. Seit diesem Vorfall möchte er allein gelassen werden. Ich möchte ihm nicht im Weg stehen. Er soll machen, was er will und er weiß, dass seine Söhne hinter ihm stehen."
"Hast du Geschwister?", lenkte er vom Thema, doch ich fand es völlig in Ordnung, weil wir dauernd auf seine Mutter stießen.
"Einen großen Bruder und eine kleine Schwester."
"Du hast keinen Kontakt mehr zu deiner Familie?"
"Nein. Ich wäre ihnen zu schwer, schwer zu erziehen. Ich wurde von ihnen auf die Straße gesetzt, aber wie du siehst, geht es mir ohne die viel besser", log ich, doch es kam glaubhaft rüber.
"Wie bist du klargekommen?"
"Paar Tage unter Brücken oder auf Bänken geschlafen. Zwar war es Winter, aber ein Freund von Selma hatte mich mitgenommen. Dadurch hab ich Selma kennengelernt und sie hat mich aufgenommen, aber sie selbst wurde auf die Straße gesetzt. Naja, das waren so ekelhafte Zeiten, aber ich hab es bestanden."
"Ich hab großen Respekt vor Mädchen wie dir, dass du dich getraut hast mit Junkies zusammenzuleben", lachte er leise und ich stieg mit ein, doch schloss meine Augen.
"Gute Nacht jetzt", sagte ich und machte es mir gemütlicher.
Am nächsten Morgen standen wir beide am spätesten auf, um 13:54 Uhr. Doch wir hatten gestern Nacht auch stundenlang geredet und es hatte gut getan. Endlich lernte ich mal die kommunikative Seite Tariks kennen.
"Morgen Schlafmütze", durchwuschelte er meine Haare und ich sah ihn gereizt an.
"Morgen", nuschelte ich und er half mir aufzustehen. Er half mir beim Aufstehen und wir frühstückten zusammen. Tarik ging eine rauchen, während ich auf ihn wartete, da wir meine Wohnung renovieren mussten und er viel stärker war, um die Möbel aufzubauen. Zuhause angekommem baute er zu aller erst alle Schränke auf. Die Küche hatte er ebenfalls mit Tapeten angelegt. Die Tapeten waren soweit fertig, nurnoch die Möbeln fehlten. Mein Schrank, Wohnzimmerschrank und die jeweiligen Kommoden für den Korridor, Wohnzimmer und Schlafzimmer machte er fertig und spät am Abend wurden wir fertig. Ich bestellte Pizza und da er im Bad Wasser lassen war, zahlte ich, er hatte es sich schließlich verdient.
Die Wohnung sah nun viel voller aus und er machte alle Heizungen auf, da es schweinekalt in der ganzen Wohnung war. Zuletzt aßen wir die Pizza und danach ging er auch schon.
Der danach kommende Tag fing schwerig an. Mit meinem gebrochenen Bein musste ich die Wäsche in den Keller bringen.
Mit einer Hand nahm ich den Wäschekorb und stützte diesen unter meinen Achseln und mit der anderen Hand hielt ich Zaungelände fest, um nicht auf die Schnauze zu fliegen.
"Scheiß Dreck", sagte ich versehentlich laut, als meine Versuche fehl schlugen.
"Kann ich Ihnen helfen?", hörte ich eine bekannte, aber auch unbekannte Stimme. Schleunigst drehte ich mich um und sah mit offenen Augen zu ihm. Wie hieß der nochmal? Genau, Bilal.
"Bilal", sagte ich.
"Hayat", lächelte er.
"Dann bist du also meine neue Nachbarin."
"Nachbarin?"
Er nickte. Er trug wie immer ein Hemd mit einem Sakko. Er sah so elegant aus.
"Anscheinend brauchst du Hilfe", stellte er fest und nahm den Korb.
"Danke", sagte ich und konnte nun eigenständig die Treppen herunter gehen. Ich schaltete das Licht an, doch es ging nicht an.
"Wieso geht das Licht nicht?", fragte ich leicht panisch.
"Ist kaputt."
"Ich geh da dann nicht rein. Ich hab Angst."
"Stell dich doch nicht so an. Los komm, ich bin bei dir", zog er mich am Arm. Grelles Licht half uns bei der Wäsche, die ich in die Waschmaschine tat und sofort verschwand. Ich hatte schreckliche Angst. Mit Licht ging es einigermaßen, doch dieser Keller war echt die Hölle. Am besten könnte man einen Horrorfilm hier drehen lassen.
"Wenn du Hilfe brauchst, dann komm ruhig rüber. Zum Beispiel bei deinen neuen Möbeln und so."
"Danke." Ich stieg ohne Weiteres die Treppen hoch, doch genau dann klingelte es.
"Abed", sagte ich und sah sein schräges Lächeln.
"Prinzessin", sagte er und küsste meine Stirn.
"Wo warst du so lange?", fragte ich kühl und sah weg.
"Ich hatte was zu tun, ich hab gehört, du bist umgezogen."
"Wie du siehst stimmt das."
"Hayat. Ich bin nicht aus diesen Grund gekommen. Ich muss mit dir reden."
Ich nickte und wir setzten uns auf meinem Bett.
"Stimmt das?"
"Was?"
Er nahm sein Handy und tippte irgendetwas.
Plötzlich erschienen die Bilder von meiner Vergewaltigung auf seinem Display.
Er hielt sie vor meiner Nase.
"Woher hast du die?"
"Das ist egal."
Ich schluckte und bemerkte, wie wütend ich wurde.
"Lösch sie."
Erneut schluckte ich und meine Blicke waren stets auf seinem Handy gerichtet.
"Abed lösch sie", wiederholte ich mich und versuchte keinerlei Tränen zu vergießen.
"Stimmt das?", fragte er erneut.
"Was stimmt Abed?!", schrie ich.
"Was erwartest du für eine Antwort? Dass ich draußen freiwillig Sex hab?", schrie ich so laut ich konnte.
"Es war nicht freiwillig. Es war eine Vergewaltigung!", hallte es zum letzten Mal laut und ich wurde leise.
"Hayat-
"Von wen?!", fragte ich und zeigte mit dem Finger auf seinem Handy.
"Wer hat dir diese Bilder geschickt?"
"Die gehen rum."
Geladen stand ich auf, nahm meine Jacke und meine Krücken und knallte die Tür zu.
"Wohin willst du hin?", schrie er mir hinterher, doch ich war nur darauf fixiert, den Bus zu kriegen, der schon bereit stand und mich in die Hölle bringen würde.
"Lass mich in Ruhe Abed. Du hast mir nicht geglaubt, also lass mich!", schrie ich und stieg in den Bus. Der Weg dauerte zehn Minuten. Angekommen stieg ich aus und klingelte dreimal. Mein Herz schlug um die Wette, die Kontrolle über meine Atmung schlug fehl.
Meine Mutter öffnete die Tür.
"Du?"
"Ich. Wo ist Cem?", fragte ich desinteressiert und trat herein. Ich hatte hier alles vermisst. Ich sah alles nach zwei Jahren.
Als keine Antwort kam, stieg ich von selbst die Treppen hoch und ging gezielt auf das Zimmer von Cem.
Aufgebracht riss ich diese auf und sah ihn vor mir stehen.
Fest schubste ich ihn nach hinten auf sein Bett und schellte ihm eine.
"Schämst du dich nicht Cem? Wie tiefgesunken muss man sein und die Bilder der Vergewaltigung der eigenen Schwester rumschicken?", fragte ich entsetzt.
Erneut scheuerte ich ihm eine rein.
"Du hast es zum Höhepunkt gebracht Cem. Du hast die Grenze meterweise überschritten. Das was du getan hast, ist nicht menschlich."
"Was ist denn passiert?", fragte meine Mutter hinter mir. Ich sah mich im Zimmer um und sah auf der Kommode die Bilder. Zügig nahm ich diese und ging an ihr vorbei.
"Merk dir eins Cem, Gott ist groß. Eines Tages stehe ich nicht mit dir vor Allah, sondern du allein. Du kommst in die Hölle."
"Halt deine Klappe du unerzogene Furie. Du respektloses Misstück. Soll ich der Hayat mal was erzählen? Deine Gefühle interessieren mich nicht, du interessierst mich nicht. Mama was passiert ist? Deine Tochter hat ihre Unschuld verloren."
"Lüg ruhig weiter Cem. Eines Tages, ich sags die nur einmal, deine Seele wird so schrecklich brennen, dass du an mich denken wirst."
Meine Blicke huschten zu Züleyha, die ahnungslos zu mir hoch sah, doch auch an ihr ging ich vorbei und ließ die Tür ins Schloss fallen. Weinend lief ich weit weg von diesen Monstern und es regnete so stark, dass ich nass wurde.
"Ich hasse dieses Leben!", schrie ich und schlug gegen die Mülltonne, obwohl mein Bein gebrochen war und es schmerzte. Völlig zerstört setzte ich mich auf die Bank und weinte mir die Seele aus dem Leib. Es fing alles mit Selma an. Dann Tarik und Abed. Dann folgte die Vergewaltigung und sieh an. Mein Bruder macht mir das Leben zur Hölle. In tausend kleinen Teilchen zeriss ich die Bilder und schmiss sie voller Wut zu Boden. Als Strafe muss ich noch ein Kind meines Vergewaltigers in mir tragen und lang kann ich es nicht vor jedem verleugnen. Man würde es schon selbst bei meinem kugelrunden Bauch herausfinden. Man würde mich als eine Hartzer Teenie Mutter wie auf RTL 2 sehen. Ich hätte keine Zukunft, kein Ziel, keine Perspektive. Ich müsste vom Staat leben und niemand konnte mir finanzielle Hilfe leisten.
"Verdammt", fluchte ich weinend.
Noch nie in meinem Leben hatte ich so schrecklich wie jetzt geweint. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich meine Mutter seit so langem wieder gesehen hatte. Ich verstand nie, wie sie ihre eigene Tochter auf die Straße schicken konnte, sie aus ihrem Haushalt strich. Sie vergaß und nichteinmal, kein einziges Mal hatte sie nach mir gefragt geschweige denn mich angerufen. Ihr war es egal, ihr war ihr eigenes Kind egal, ihr Fleisch und Blut. Ich schämte mich für ihr Verhalten. Man sagt, es gibt Menschen, die schlimmeres erlebten, doch ich gehörte gerade zu dieser Sorte. Es gibt nichts schlimmeres als vergewaltigt zu werden, die eigene Intimsphäre wird brutal überquert und der Gedanke zerstört seelisch. Noch nie hatte ich mich so beschmutzt, ausgenutzt und wertlos gesehen. Ich war sonst doch die selbstbewusste, die arrogante und lächelnde Hayat. Ich gab ein Schiss auf meine Mitmenschen und war auf mein Leben konzentriert. Sieh an, ich weine mich jeden Tag in den Schlaf. Selbst Abed hält sich fern von mir. Er war so lang weg, weil er die Bilder gesehen hatte, denn sonst hatte er sich jeden Tag gemeldet. Er hatte mich hängen lassen, doch es war verständlich. Er ekelte sich vor mich. Durch ihn würde es Tarik erfahren, durch Tarik Harun und durch Harun Selma. Nur Hoffnung auf Semra hatte ich, doch unser Kontakt wurde immer niedriger. Mittlerweile wissen wir beide nichteinmal, ob einer von uns lebt. Sie würde bald heiraten, wie sollte sie mit einem Problemmenschen wie mir befreundet sein? Die zu den Straßenmädchen gehört, arm ist und keine Marnieren hat, weil sowas Menschen wie ich nicht kennen. Nach einer Stunde erst stellte ich mich hin und humpelte zur Bushaltestelle. Mir war kalt, ich zitterte und meine Kleidung war bis zur letzten Faser durchgenässt. Mein kompletter Gips war nass, das Gefühl, dass mein Blutdruck durch die Kälte sich verschlechterte und ich jeden Moment vor dieser eisernen Last umkippen konnte, tauchte auf und ich hauchte meine zu Faust geballten Hände an, um wenigstens etwas Wärme zu spüren.
Nach zehn Minuten kam der Bus und ich trat in die Wärme. Mir wurde übel und schwindelig, doch ich hielt die Stationen aus.
Meine Ohren schmerzten von innen und meine Migräne tauchte vor diesem ganzen Stress auf, nur dass ich doppelte Kopfschmerzen bekam. Zuhause sah ich von Weitem Abed, der vor meiner Haustür unten stand und er zu mir angelaufen kam. Stumm legte er seine Arme um mich und umarmte mich so fest, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen.
"Abed", weinte ich und fing an laut zu weinen. Dauerhaft strich er über meine Haare, aber ich konnte keinen Schluchzer stoppen.
Er nahm mich hoch und ging die Treppen hoch.
"Hast du deine Schlüssel dabei?"
Ich nickte und gab ihm diese aus meiner Hosentasche.
Nachdem die Tür aufgeschlossen wurde, legte er mich auf mein Bett ab, ging zu meinem Kleiderschrank und besorgte mir Unterwäsche, eine dicke Jogginghose mit einem warmen Wollpullover. Er begleitete mich ins Bad und ich zog mir die Tüte über dem Bein, um zu duschen. Ich duschte mich zehn Minuten lang mit warmen Wasser, um das Zittern zu stoppen. Danach cremte ich mein Gesicht an und zog mir die Kleidung über.
"Bist du fertig?", fragte er und ich bejahte. Ich stützte mich bei ihm ab und er legte mich ins Bett. Danach holte er den Föhn und trocknete meine Haare, damit ich mir keine Grippe einfange.
"Dein Gips ist ja nass", sagte er und versuchte eine Lösung zu finden.
"Es war nicht freiwillig", flüsterte ich wie hypnotisiert.
"Psht", flüsterte er und drückte meinen Kopf gegen seine Brust.
"Ich weiß Hayat und ich hasse mich dafür, dich nicht beschützt zu haben. Ich hasse mich dafür."
"Ich bin kein Baby. Es war meine Schuld", schüttelte ich meinen Kopf und bekam erneut Tränen in den Augen.
Er kniete sich auf dem Boden und nahm meine Hand.
"Du hast nichts falsches getan okay? Du warst unschuldig."
"Es war nicht freiwillig", wiederholte ich und hörte das Zittern in meiner Stimme.
"Ich weiß Hayat. Ich werde sie finden."
"Dein Gips hat zum Glück nicht viel abbekommen, es ist äußerlich nur nass. Bis Morgen trocknet das und wenn nicht, dann werden wir das auswechseln."
Ich nickte und lehnte mich zurück ins Bett. Er deckte mich zu und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
"Meine kleine Schwester wurde verletzt. Die werden das Doppelte bekommen. Mach dir da keine Sorgen", flüsterte er und strich über meine Stirn, was mich in den Schlaf schickte.
Mitten in der Nacht stand ich verschwitzt auf und bekam totale Panik in der Dunkelheit. Ich spürte Abeds Hand auf meiner rüttelte an dieser.
"Abed", sagte ich ängstlich.
"Hm?", nuschelte er und hob seinen Kopf.
"Mach das Licht bitte an", flüsterte ich und er tat dies.
"Willst du mit Licht schlafen?"
Ich nickte nur. Er lehnte sich wieder an die Wand neben meines Bettes und nahm meine Hand.
"Gute Nacht", lächelte er und ich erwiderte es kurz.
"Gute Nacht", zog ich seine Hand näher an mir und schloss meine Augen, obwohl ich ein schlechtes Gefühl bekam, dass er auf dem Boden schlafen musste, doch plötzlich fiel mir ein, dass ich eine zweite Matratze besaß.
"Abed."
"Hm?"
"Im Wohnzimmer liegt an der Wand eine Matratze und daneben findest du auch Kissen und Decke."
"Das fällt dir schnell ein", lachte er und holte sich diese.
Und obwohl er nun tiefer lag, gab er mir wieder seine Hand, um mir die Nacht das Gefühl zu geben, dass ich nicht einsam war und in meinen Augen war das die größte Hilfe, die ich je von so einem großzügigen Menschen bekommen konnte.
[...]
"Dann sind die abgehauen", erzählte ich zu Ende.
"Du solltest zur Polizei, damit die hinter Gitter kommen."
"Ich trau mich nicht. Sowas ist doch nicht einfach."
"Das sind Polizisten. Die hören sowas oft und glaub mir, es ist viel mutiger dahin zu gehen."
"Ich trau mich nicht."
"Aber ich werde die suchen."
Seine Muskel spannten sich.
Da ich mit dem Kopf auf seinem Schoß gelehnt war und meinen Körper lang gestreckt hatte, konnte ich das Anspannen seiner Muskel spüren. Ich hatte mir Fieber geholt und wir waren auch mein Gips auswechseln gegangen, aber trotzdem hatte ich mich erkältet. Abed blieb bei mir und hatte mir Tee gekocht. Außerdem hatte er mir Fiebersaft gekauft.
"Wie sahen die genau aus?"
Ich holte tief Luft und meine Atemwege verstopften sich. Die Gesichter tauchten in meinem Kopf auf.
"Ich kann nicht", sprach ich verzweifelt und hob meinen Kopf.
"Schon okay", legte er seine Hand auf meine Wange und strich mit seinem Daumen darüber.
Er schüttete Tee von der Thermosflasche in die Tasse und übergab sie mir.
"Danke", sprach ich heiser und nahm einen großen Schluck davon.
Der warme Tee kam in Berührung mit meinem Hals und es fühlte sich gut an.
Unmotiviert schmiegte ich mich an seine Schulter.
Wir verbrachten gemeinsam den Tag, bis es dunkel wurde und ich ihn bat nach Hause zu gehen, als er doch lieber zur Sicherheit bleiben wollte, denn ich würde es selbst in den Griff bekommen. Die nächsten Tage vergingen ereignislos. Nur, dass ich jeden Morgen brechen musste und die Morgenübelkeit mich echt fertig machte. Ein kompliziertes Baby würd ich sagen. Ich hielt mich von jedem fern, um mich auf mein Leben zu konzentrieren, doch desto öfters sah ich Bilal im Treppenhaus, der mich nur dann sah, wenn ich wie eine schreckliche alte Frau aussah.
Doch wegen meiner Angst vor dem Keller kam er öfters mit mir mit. Er hatte mich heute zu sich nach Hause eingeladen, um gemeinsam das Fußballspiel von Deutschland gegen Polen anzuschauen. Da das Spiel um 21 Uhr beginnen würde, zog ich mir einen bequemen Jogginganzug von Adidas in grau und schwarz an. Wegen meinem Gips konnte ich nur leider Gottes Jogginghosen anziehen, aber was solls.
Bei ihm angekommen klopfte ich.
"Frau Ates", lächelte er und ich sah verlegen zu ihm hoch.
Auch er trug ein Shirt mit einer Jogginghose. Zum ersten Mal sah ich ihn so, denn sonst lief er nur mit schicken Hemden und Sakkos herum, wie ein elegant gekleideter Mann, aber heute sah er durch diese Kleidung einfach jünger aus. Ich trat herein.
"Vorsicht", warnte er mich, als ich beinahe gestolpert wäre.
"Ups", sagte ich und lachte kurz.
Wir setzten und auf seinem überdimensionalen Sofa und es lag sogut wie alles zum essen auf dem Tisch.
Es lief bereits das Spiel, doch wir waren eher in unsere Gespräche vertieft. Es fühlte sich seltsam an, mich mit einem wie ihm zu unterhalten. Er war nicht Selma, Tarik oder Abed. Er war ein erfolgreicher und netter Mann, kein Krimineller und er hatte keine Feinde. Einer, der arbeitet und eine Zukunft hat.
Trotz, dass er von meiner Vergewaltigung wusste, sprach er mit mir, als wären wir Freunde und um ehrlich zu sein, fühlte ich mich unwohl in meiner Haut, weil er so attraktiv aussah.
Manchmal, da blickte er mich so schief und heiß an.
Nachdem Halbzeit war aßen wir uns voll, aber ich als angebliche Lady bemühte mich stets eine gewisse Menge an Nahrungsmittel zu mir zu nehmen, obwohl ich Hunger wie eine Hochschwangere hatte.
"Abseits", rollte ich meine Augen. Immernoch hatte niemand einen Tor geschossen, doch ich musste zugeben, dass Polen ziemlich gut spielte.
Gemeinsam feuerten wir Deutschaland an, als Deutschland beinahe ein Tor geschossen hatte, doch fehlgeschlagen.
Wir beide seufzten und lehnten uns wieder zurück.
"Ich sollte jetzt so langsam gehen", sah ich zur Uhr, die 0 schlug.
Das Spiel war längst zu Ende, aber wir hatten so viele Gesprächsthemen, dass wir beim plappern die Uhrzeit nicht mehr im Hinterkopf hatten.
"Bleib ruhig. Ich muss morgen sowieso nicht arbeiten", sprach er mit seiner tiefen und ruhigen Stimme.
"Nein, nein. Ich bin müde", gähnte ich und lächelte ihn an.
Er begleitete mich zur Tür, schloss diese nicht und mir fiel noch etwas ein. Schnell drehte ich mich um.
"Danke für den Abend", sah ich hoch zu ihm und stellte diese gewisse Nähe zwischen fest.
Sein Blick ging von oben nach unten, er analysierte meinen Körper und sofort wurde es mir unangenehm.
"Nicht dafür", lachte er, als wäre ich die dämlichste Person, doch es war von ihm nur nett gemeint.
Kurz lächelte ich ihn an und ging zu meiner Tür.
"Man sieht sich", hörte ich hinter mir, als ich die Tür aufschließen wollte. Nur er und ich waren im Treppenhaus. Die Dunkelheit und der Mond, der durch das große Fenster des Treppenhauses auf uns schien. Trotz, dass wir schon beinahe flüsterten, kam ein Echo zurück und diese Atmosphäre fühlte sich neu an.
Ich grinste, schloss die Tür auf, trat herein und lehnte mich an die Tür. Das war einer meiner schönsten Tage, die ich je verbracht hatte. Er war so anständig und freundlich. Wir verstanden uns prächtig. Wie ein Teenager grinste ich und leckte mir über die Lippen. Doch wie erwartet fühlte ich die Flüssigkeit in meiner Speiseröhre und versuchte so schnell wie möglich ins Bad zu gelangen.
"Jetzt befinde ich mich in der zehnten Woche stimmts?", fragte ich und säuberte meinen Bauch. Heute hat man schon die Form meines Babys gesehen, man konnte den Körper sehen, denn es hatten sich Füße und Arme, sowieso Finger und andere Gliedmaßen entwickelt. So schlimm es auch vergänglich war, als zukünftige Mutter war es schon ein stolzes Gefühl. Doch ich war nicht stolz, dass dieses Kind von einem Vergewaltiger entstanden war, überhaupt nicht. Ich musste nunmal Konsequenzen tragen, doch ich könnte diesem unschuldigen Wesen niemals die Schuld für die Vergewaltigung geben. Es war die Schuld dieses ekelhaften Mannes, an den ich jeden Tag zurück dachte und darüber nachdachte, was ich Allah angetan habe, dass ich vor genau zehn Wochen mit solch einer qualvollen Strafe büßen musste.

Verliebt in ein VerbrecherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt