Kapitel 25

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Lesenacht Teil 2
Nun war es soweit. Heute war die Beerdigung von Selma. Ich richtete Hayats Kopftuch gerade und nahm ihre kalte zitternde Hand in meine. Kader blieb bei Tahani Teyze und ich führte Hayat in meinen Wagen. Nachdem ich den Zündschlüssel ins Loch tat, startete ich das Auto und atmete lang aus. Seit Tagen schwieg sie, aß kaum und war lediglich geschockt, ihre beste Freundin verloren zu haben. Harun ging es Tag zu Tag schlimmer, er war seelisch gekränkt und dachte mittlerweile an den Tod. Er kam ohne Selma garnicht klar, was auch natürlich nachvollziehbar war, da sie wirklich jeden Tag und jede Nacht zusammen waren. Und nun war sie seit Tagen einfach weg.
Beim muslimischen Friedhof angekommen parkte ich und öffnete Hayat die Tür.
"Wir schaffen das", sprach ich zu ihr und nahm ihre Hand erneut in meine. Kleine Schritte machten wir, doch kamen so schnell an. Selmas Familie und Verwandtschaft stand dort bereits, jeder schwarz gekleidet und betrübt. Gesenkte Blicke, jeder in seinen Gedanken wie Hayat, die sich keines Wegen traute, ihre Blicke zu heben. Ich spürte durch ihre Hand, dass sie versuchte, nicht anfangen zu weinen beziehungsweise sich zusammenzureißen. Doch es ging Selmas Eltern scheiße. Sie konnten nicht und weinten.
Die Beerdigung begann, wir holten ihren Sarg ab und auf dem Weg begleiteten uns die Frauen. Selmas Vater, Onkel, Harun und ich trugen den Sarg und es wurden Suren gesprochen. Als Hayat auf Selmas leblosen Körper sah, fing sie an zu weinen. Arm in Arm mit Selmas Mutter stand sie hinten und weinte. Meine Brust schmerzte. Nachdem der Imam fertig war und wir über ihre gute Taten erzählten, legten wir ihren Sarg im tiefen Boden und schütteten Erde darüber. Wir machten Dua. Zuletzt fügten wir ihren Grabstein dazu und es wurden viele Blumen darauf gelegt.
Selma Kayamaz. Sie wurde gerade mal 20 Jahre alt. Ihr Leben hatte gerade doch noch begonnen. Zuletzt blieben nur noch ihre Eltern, Harun und wir beide. Als Letzte legte sie den Blumenstrauß auf die frische Erde und sah zum Grabstein. Eine Weile blieben wir dort. Anschließend verabschiedeten wir uns von ihren Eltern, wünschten ihnen viel Kraft und fuhren zu Harun.
Stillschweigend setzten wir uns im Wohnzimmer hin und ich brachte jeden Wasser.
"Das waren die schlimmsten Stunden, die ich je erlebt habe", sprach Hayat und Harun stimmte mit ein.
"Ich wollte einfach nur drauf springen, als ihr sie in die Tiefe gelegt habt", sagte nun Harun.
"Ihr ist doch bestimmt kalt. Unten im dunkeln, kein Sauerstoff, Kälte und sonst nichts", sprach Hayat unter Tränen und ich zog sie in meine Arme.
Auch wenn sie eine Leiche war, machte sie sich Sorgen, dass ihr kalt sein könnte oder nicht genug Sauerstoff hätte. So sensibel Hayat auch war, wusste ich, dass sie zwei Nächte nicht schlafen könnte, da sie noch nie eine Leiche zu Gesicht bekommen hatte. Die Nacht nach dem Unfall hatte sie ebenfalls kaum geschlafen.
"Sie sah so aus, als hätte sie geschlafen. Am Tag des Unfalls war nur Blut in ihrem Gesicht. Sie haben alles gesäubert und da war nur eine kleine Wunde zu sehen, aber sie sah wie ein friedlich schlafender Engel aus", versuchte Hayat zu sprechen, da ihre Stimme heiser war.
"Ich wünschte ich könnte den ganzen Tag einfach nur vor dem Grab hocken und auf mein Mädchen aufpassen. Egal ob Regen, Schnee oder Naturkatastrophe, hauptsache ich kann meinen Engel schützen", sprach Harun und ein Schmerz machte sich in mir breit. Mein armer Bruder litt so unter diesem Tod.
"Ja, dann wäre sie immer sicher. Nachts ist es immer so gruselig an solchen Orten und obwohl sie immer so tut, als hätte sie nicht Angst, weiß ich, dass sie sich trotzdem fürchtet."
"Ihr kleines Herz schlägt nicht mehr. Unser Baby existiert nicht mehr. Niewieder werde ich die Chance haben, ein Kind zu haben, dessen Mutter Selma Kayamaz ist."
Hayat umarmte ihn von der Seite und wir trösteten uns zu dritt gegenseitig. Am Abend fuhren wir nach Hause. Hayat zog sich ihren Pyjama und ihr Shirt an. Kader holte ich von Tahani Teyze ab, erzählte ihr kurz, wie es war und bedankte mich bei ihr. Hayat blieb im Zimmer, also machte ich Kaders Flasche fertig und fütterte sie. Als sie die Flasche ausspuckte, war sie auch schon satt. Ich dankte Tahani Teyze, dass die Windeln frisch gewechselt wurden genau wie die Kleidung, denn ich konnte sowas nicht. Leicht klopfte ich Kader auf dem Rücken und öffnete die Schlafzimmertür. Hayat freute sich und nahm Kader in ihren Armen. Wenigstens konnten wir uns irgendwie durch Kader ablenken.
Irgendwann schlief jedoch Kader ein und ich schaltete das Licht aus.
"Tarik?", piepste Hayat im Dunkeln.
"Hm?", brummte ich.
"Ich hab Angst", flüsterte sie.
Das hatte ich schon geahnt.
"Komm her", sprach ich rau und sie klammerte sich an mich.
"Die Bilder erscheinen die ganze Zeit vor meinen Augen", sagte sie.
"Ich weiß Hayatim. Das war zuviel für dich, aber es wird sich schon legen. Schließ jetzt deine Augen", küsste ich ihren Scheitel und drückte sie so eng es ging an mir, dass ihre Angst vergeht.
Zwei Tage vergingen. Täglich besuchten wir Selmas Grab und egal um welche Uhrzeit wir uns dort befanden, Harun saß tagtäglich hungernd in der Kälte vor dem Grab und blickte stur aufs Grabstein. Er hatte in den letzten Tagen abgenommen, Augenringe bekommen und sah viel älter aus. So oft hatte ich versucht ihn wegzuscheuchen, doch er konnte über seine Geliebte nicht hinwegkommen. Hayat konnte seit gestern wieder endlich schlafen, da sie ebenfalls an Augenringe zugenommen hatte und ihr dauernd schwindelig wurde. Auch sie aß kaum. Ich ging wie gewohnt zur Arbeit und kümmerte mich den ganzen Tag nach der Arbeit um meinem Bruder und meine Frau.
"Kaderim", rief ich und küsste ihre mini Lippen. Auch Hayat lächelte und schmiegte sich an mich.
"Wieso bist du so spät erst gekommen?", nuschelte sie müde.
"Musste paar Überstunden machen, weil wir soviel zu erledigen hatten. Ich geh mich schnell duschen."
"Wie war Arbeit?", fragte sie, nachdem ich mich auf die Couch setzte und den Kopf in den Nacken legte.
"Anstrengend."
Selbstverständlich war ich nicht wegen den Überstunden zu spät, sondern war auf der Suche nach unseren Tätern gewesen. Wie ich geahnt hatte, steckte Cem, Hayats Bruder dahinter, doch ich konnte es ihr nicht sagen, weil sie sich unnötig schuldig für den Tod von Selma machen würde. Ich wusste bereits, wo er sich befand und müsste nur noch Harun benachrichtigen. Er würde zu Grunde gehen, sterben, denn Harun kannte bei Selma keine Grenzen. Er würde ihn mit eigenen Händen umbringen, doch den Tod hatte er verdient.

Verliebt in ein VerbrecherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt