Teil 1 - Kapitel 1

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Zuerst: Danke, dass Du die Story liest. Ich hoffe, sie wird Dir gefallen. Viel Spaß
~ Once(-00)
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Sie hätte nie gedacht, dass sie es schaffen würde. Sie war von ihm geflohen. Von dem Tyrannen, unter dessen Macht sie schon seit rund dreihundert Jahren stand.
Genauso hätte sie nie gedacht, dass sich die Welt so verändern konnte. Immer hatte sie gedacht, es wären Lügen, was ihr ihre Kinder und dieses Monster erzählten. Autos, Handys, Flugzeuge, Züge, Frauen in Jeans, Hochhäuser, asphaltierte Straßen. Die Umgebung war so unwirklich. Und trotz allem hat sie es bis in die Hauptstadt geschafft, während er im Ausland war. Sie hat es geschafft, ihre Kinder zu verstecken. Jetzt musste sie sich nur weiterbewegen, um nicht gefangen zu werden. Sie hatte doch sowieso kein Geld, also auch nichts, womit sie sich eine Unterkunft bezahlen könnte. Und um Essen bräuchte sie sich ja keine Sorgen zu machen. Vierundzwanzig Stunden im Freien waren immer noch besser als bei ihm zu bleiben.
Hach, er müsste mal ältere Wachen einstellen. Oder wollte er, dass sie flieht, um sie härter zu bestrafen? Wie schlimm könnte es schon werden?! Das würde sie rauskriegen, wenn der ach so geehrte Vincent sie fände. Und die Chancen standen wirklich hoch, überall hatte er seine Leute. Außerdem, wie viele Menschen, überhaupt weibliche Wesen, gab es schon mit ihrem Namen? Emilia-Katheryn. Wohl kaum einen. Aber sie könnte einfach nicht mehr an diesem gottverlassenen Ort bleiben, das sie ihr Zuhause nennen musste, aber nicht konnte. Ein Gefängnis war es für sie.
Sie blieb endlich stehen und schaute sich um, nach dem Namen der Station und der Uhrzeit. Berlin Alexanderplatz, 04:36 Uhr. Alexanderplatz... Das sagte ihr überhaupt nichts. Wo sollte sie jetzt also hin?
Ihr Sohn Daniel erzählte ihr einmal, er lebt in der Osloer Straße. Aber wo war das? Noch einmal sah sie sich um. In wenigen Metern vor ihr, am Brunnen, standen sechs junge Männer. Nein, zu ihnen würde sie nicht hingehen. Eher würden sie sie vergewaltigen als ihr den Weg zeigen.
Am anderen Ende des Platzes saßen vier Obdachlose und betranken sich mit Bier. Nein, auch eine schlechte Wahl.
Rechts von ihr gingen zwei junge Frauen lachend in die Richtung des U-Bahn-Eingangs. Ihre Kleider würde sie als etwas lange Tops bezeichnen. Dazu trugen sie hochhackige Sandalen, die bei solcher Stille laut zockten. Ja, das war schon besser.
Sie lief auf die beiden zu, die Frauen blieben stehen und musterten sie überrascht. Sie räusperte sich und fragte: "Könntet ihr mir vielleicht zeigen, wo die Osloer Straße ist?"
"Ja sicher, komm mit.", meinte die Eine im Plauderton.
"Was machst du denn hier alleine so spät?", wollte die Zweite wissen.
"Ich bin Touristin, habe mich verirrt.", antwortete sie.
"Da hast du ja Glück, dass du uns getroffen hast. Die Typen da wärst du ganz bestimmt nicht los." sagte wieder die Erste.
Wie falsch du liegst, Mädchen., dachte Emilia bitter. Sie konnte 'die Typen' mit nur einem Gedanken besiegen. Aber sie wollte es nicht, sie war kein Monster. Sie war nicht Vincent.
Er war jetzt bestimmt drauf und dran nach Hause zu fahren. Seine Wut an den Wachen auszulassen, weil sie sie laufen gelassen haben. Sie waren einfach nur schutzlos gegen sie, die Dreihundertjährige. Wie kleine Kinder. Er hätte es wissen müssen, dass sie zu fliehen versuchen würde.
Die zwei jungen Frauen plapperten auf sie ein, während sie in die U-Bahn runterstiegen, während sie in die Bahn einstiegen und während sie fuhren. Es war sehr seltsam, in einer leeren Bahn zu fahren, mit zwei Unbekannten, deren Kleider eher als Unterwäsche galten und die pausenlos über etwas redeten. Sie gehörte ganz und gar nicht in dieses Jahrhundert. Jahr 2016, lebte sie wirklich schon so lange? Und dabei durfte sie kein einziges Mal das Haus des Mannes verlassen, der sich selbst als ihr Gatte nannte.
Die eine Frau schubste sie an, als die Bahn wieder anhielt. "Deine Station."
Die Zweite fügte hinzu: "Pass auf dich auf."
"Danke.", lächelte Emilia und stieg aus.
Die Bahn schloss ihre Türen und fuhr weg. Jetzt war sie wieder allein. Mehrere Fragen kümmerten sie nun. Wo mochte Daniel wohnen? Wo war der Ausgang? Und wo sollte sie hin, wenn nicht zu Daniel? Schließlich war er wahrscheinlich der Erste, bei dem Vincent sie suchen würde. Er war ja ihr ältester Sohn. Trotzdem wollte sie ihn besuchen. Seit Jahren hat sie ihn schon nicht mehr gesehen. Sie musste mit ihm Kontakt aufbauen, sie war dazu fähig.
Sie sendete eine Energiewelle. Dann noch eine und eine Dritte. Mit jedem ihrer Kinder hatte Sie vereinbart, dass es ihr Ruf wäre, wenn sie mal Hilfe brauchte. Zwar war es noch nie soweit gekommen, aber nur, weil sie ihre Kinder nicht gefährden wollte.
Eine Energiewelle drang nun auch zu ihr durch und lief durch ihren Körper ins Gehirn. Daniel war wach und jetzt auf dem Weg zu ihr.
Und in wenigen Sekunden stand schon ein junger Mann in fünf Schritten ihr gegenüber. Gut gebaut, ein Kopf größer als sie, blonde glatte kurze Haare, braune Augen, ein Drei-Tage-Bart, in ein schwarzes Baumwollhemd und dunkle Jeans gekleidet. Als er sprach, klang seine Stimme leicht entsetzt. "Mutter. Wie bist du entkommen?"
"Vincent ist im Ausland.", entgegnete sie leise.
"War im Ausland, wohl besser gesagt. Er hat schon angerufen. Wollte wissen, ob ich dich gesehen hätte oder zumindest etwas über dich wüsste. Er war recht wütend, zornig sogar."
"Das habe ich mir schon gedacht. Aber du weißt, wie er mich behandelt, ich musste fliehen."
Sie sah traurig zu Boden und spürte, dass ihr Sohn auf sich selbst wütend wurde. Sie hörte seine Schritte und wurde in eine Umarmung geschlossen.
"Ich freue mich, dich zu sehen, Mutter. Lass uns nach Hause gehen.", meinte Daniel leise und sanft mit seiner tiefen Stimme. "Du bist bestimmt erschöpft und hungrig."

Das Leben ist kein MärchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt