Kapitel 6

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**real view**

Oh. mein. Gott. Als Sara ging, war mir auf einmal wieder alles klar vor Augen. Sie hatte ja so recht. Mit allem. Ich war krank! Ich war wohl wirklich psychisch gestört! Ich gehörte in die Psychatrie! Ich war ein Nichts. Und das heute in der Bahn! Ha ha, war ja wirklich saucool meine Schloss-Einstein-Aktion. Man musste sich wirklich einmal mein Leben im Schnelldurchlauf angucken. Da hätte man einiges zu Lachen, an den vielen Peinlichkeiten die ich schon veranstaltet habe. Aber letzendlich wär es doch einfach nur traurig was mit dieser Person passiert ist... Ich erinnerte mich noch daran, als ich meinen Vater das erste Mal bewusst betrunken erlebt hatte. Wie automatisch stieg ich in die Bahn ein und setzte mich hin, als die dunklen Erinnerungen mich einholten.

Ich war damals 5 Jahre alt und beschäftigte mich wie immer alleine im Haus. Gerade versuchte ich mir die Zeit zu vertreiben, indem ich mit zwei Männchen aus einem Ü-Ei zu spielen versuchte. Meine Eltern wollten zu der Geburtstagsfeier von meiner Tante gehen, sie feierte irgendwo bei einer angesagten Bar. Ich weiß noch, wie die zwei kichernd am Abend sagten, dass auf der Party keine Kinder erlaubt seien. Also sollte ich brav zuhause bleiben. Es vergingen Stunden und ich wartete trotzdem die ganze Zeit auf Mommy und Daddy. Dann, in der Nacht kamen sie wieder. Ich wollte ihnen entgegenlaufen, als ich merkte dass sie sich wohl stritten, und zwar ziemlich heftig. Ich hörte Schreie und Beschimpfungen. Also hielt ich mir die Ohren zu und lief zurück in mein Zimmer und flüchtete zu meinem warmen Bett. Irgendwann kehrte Ruhe ein. Man hörte nur noch Mommy weinen. Doch plötzlich krachte mein Daddy in mein Zimmer. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und schwitzte stark. Dann kam er auf mich zu und sprach, kaum verständlich: "Mary! Es war so für den Arsch! Ich wollte sie so gerne, ja deine geile Tante, weißt du? Es war ja ihr Geburtstag und da wollte ihr ihr ne Freude machen! Also hab ich sie in's Nebenzimmer entführt!" Er klang gruselig und er roch so komisch. Es machte mir Angst. Auf einmal kicherte er hoch. Es klang irre, ich wusste nicht, was in ihn gefahren war. Er sprach weiter: "Dann wollte ich einfach nur ein bisschen Spaß mit ihr haben! Aber sie wollte nicht! Und weißt du wer uns dann gestört hat? Der kleine Pisser, dein Onkel! Verstehst du das, Maryyyy? Dein Onkel hat mich gestört! Und dann, dann wollte er mich auch noch rausschleppen! Deiner Mutter hat er natürlich auch alles erzählt, das miese Schwein. Doch ich wollte nicht, dass er mich wegschleppt! Er kann mir doch nichts erzählen! Mir doch nicht! Maryyyy... Weist du was ich dann getan habe? Ich hatte ihn geschlagen! Und zwar so!" Und ehe ich irgendetwas begreifen konnte, holte er aus und schlug mich in Gesicht. Ich schrie auf.  Plötzlich hielt mein Vater inne und schaute zu mir. Dann flüsterte er: "Oh. Entschuldige, Mary." Wenige Sekunden später lachte er laut los und verließ mein Zimmer.

Ich war so in meine  Gedanken versunken gewesen, dass ich fast meine Haltestelle wo ich aussteigen musste, verpasst hätte. Rechtzeitig stieg ich schell aus. Betrübt lief ich nachhause. Als ich unsere Wohnung aufschließen wollte, fiel mir auf einmal auf, dass neben einer anderen Wohnung Umzugskartons standen. Wir bekamen also neue Nachbarn! Das war schlecht. Richtig schlecht. Nachbarn waren von Natur aus neugierig auf ihre Nachbarn. Aber niemand durfte etwas von meiner Mutter oder meinem Vater erfahren! Meine Mutter war ein Messi, mal von vorherein gesagt, und wenn sie wieder wegen meinem Vater traurig war, weil er uns einfach verlassen hatte und nur sehr selten vorbeikam, um sich Geld zu holen, dann konnte sie auch schon mal handgreiflich werden. Das kam aber zum Glück auch nur selten vor und meistens achtete sie auch freundlicherweise darauf, dass sie mich nur auf den Hintern schlug. So entstanden keine sichtbaren hässlichen blaue Flecken für neugierige andere Personen.

Und mein Vater, schwer zu erkennen, war Alkoholiker. Manchmal schaute er auch beim Drogenhandel vorbei.

Doch diese Schwierigkeiten durfte niemand wissen! Ich kam gerade damit so zurecht, dass ich überlebte. Und die meiste Zeit war ich ja auch sehr glücklich und positiv gestimmt! Okay, zugegeben, diese positive Stimmung ist eigentlich total falsch, so wie ich auch. Aber dennoch, immer wenn ich glücklich denke, komme ich sehr gut mit meinem Leben zurecht! Und wenn die Nachbarn das Jugendamt rufen, würde es meiner Familie und mir nur noch schlechter gehen. So schlecht ging es mir nun auch wieder nicht! Nun gut, mein Vater hatte schon längst keinen Job mehr, doch meine Mutter arbeitete als Kassiererin im Supermarkt! Kein Traumjob, schon klar, wir hatten riesige Geldprobleme (vor allem da mein Vater immer so viel für seinen Alkohol und gelegentliche Drogen ausgeben musste), dennoch besser als Hartz 4.

Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Erschrocken drehte ich mich um. Okay, es war nur ein Junge. "Hey was willst du?", fragte ich misstrauisch. Dieser räusperte sich erstmal. "Ähm naja, also hallo, ich bin Jack und ich denke wir sind jetzt Nachbarn? Also ich bin hier grad neu eingezogen und..." Ich unterbrach ihn genervt. "Ja das sehe ich, lass mich bitte in Ruhe, war schön dich kennenzulernen." Ich ging in die Wohnung rein und schloss schnell die Tür. Wie gesagt, mit Nachbarn möchte ich nichts zutun haben. Und der Typ soll mich bloß in Ruhe lassen.

Es war kein leichter Tag heute gewesen. Vor allem das mit Sara nicht. Jetzt hatte ich wirklich keine "Freundin" mehr! Es hatte für mich gereicht, dass ich für mich selber so tun konnte, als ob wir wirklich eine Freundschaft hätten. Doch jetzt hatte ich endgültig bei ihr versagt und mit Geld kriegte ich sie wohl auch nicht mehr zurück!

Ich ging in mein Zimmer und stellte mich vor den Spiegel. Oft wurde mir gesagt, dass ich hässlich bin. Ich habe das immer weggesteckt und mir selber eingeredet, dass ich eine Schönheit bin. Doch nun wollte ich mich mal genauer betrachte. War ich schön? War ich wirklich hässlich? Ich hatte dunkelbraune, lange Haare. Diese hingen bei mir einfach so herunter. Kein Schnitt oder Glanz. Wie auch? Ich benutzte Billig-shampoos für 49 Cent (und die auch immer seltener) und zum Frisör ging ich nie. Meine Augen waren auch dunkelbraun, sie hatten die gleiche Farbe wie meine Haare. Ich hatte aber eine gerade ganz passable Nase. Jedoch dünne Lippen und einen etwas breiteren Mund. Mein Kinn war ein kleines bisschen spitz. Das gefiel mir überhaupt nicht. Ich war dünn, hatte jedoch keine ausgeprägten weiblichen Kurven oder schöne lange Beine. Man konnte mich eher dürr als schlank bezeichnen. Zu meinen Klamotten... naja. Sie waren eine Katastrophe. Es war altes Zeug, secondhand. Meine Mutter war mit mir nie in einem normalen Kleider-shop gewesen. Immer waren es alte Klamotten von Bekannten oder manchmal auch aus einem Secondhand-shop gewesen. Mein viel zu kleines blaues T-shirt mit der Aufschrift "Schloss Einstein" sah schon ganz verwaschen aus. Meine Hose war vor 20 Jahren wohl mal angesagt gewesen,  jetzt aber nur noch peinlich. Außerdem war auf ihr ein großer Ketchup-Fleck. Ach, und das abstoßende Loch... Ich sah so erbärmlich und peinlich aus. Allzu hässlich war ich nicht, aber auch längst nicht so wunderschön, wie ich es mir immer eingeredet hatte. Es musste dringend etwas an meinem Klamottenstil geändert werden. Doch dies hieß, Geld ausgeben...

Ach, verdammt! Es war so anstrengend sich über das Leben und sich selber Sorgen machen zu müssen! Morgen, wenn ich aufwache, werde ich ganz bestimmt wieder positive Simmung haben. Also jetzt schön schlafen gehen Mary! , redete ich mir selber ein.

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