Kapitel 25

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**real view**

Mittagspause. Mein Blick schweifte durch den Speisesaal, auf der Suche nach einem freien Tisch. Mit dem Tablett, beladen mit Apfelschorle und einem wässrigen Auflauf, trottete ich in die rechte Ecke, setzte mich auf den blauen Plastikstuhl und legte mein Tablett auf den weißen Plastiktisch ab. Ich senkte den Kopf und mir fielen Strähnen meiner langen braunen Haare in mein Gesicht. Sie rochen ungewohnt nach einem Kräutershampoo, welches Mrs Hood, die zugeteilte Aufseherin meines Flurs, mir aushändigte, zusammen mit den neuen Jeans, Shirts, Kosmetikprodukte und all dem anderen neuen Zeugs. Hier wurde kontrolliert, dass du dich wäschst. Es war erst zwei Wochen her, doch fühlte es sich für mich so an, als wäre ich schon Jahre in diesem verdammten Heim. Ich sollte dankbar sein, für die passenden Klamotten, für die drei Mahlzeiten am Tag, dafür, dass keine Mutter mich mehr schlagen konnte.

Doch es war schwer.

Ich hatte letzendlich doch vor Gericht gegen sie ausgesagt, gegen meine eigene Mutter. Danach war alles relativ schnell gegangen, das Heim, hier im Norden San Franciscos, hatte mich schnell aufgenommen und die Sache mit meiner Therapeutin, Mrs Bloom, war auch schnell geklärt. Im Peterson Heim, so hieß es, war eine integrierte Schule mit den regulären Schulzeiten, auf die ich halt fünf Tage die Woche ging. Der Unterrichtsstoff war schwer. Viel schwerer als auf meiner alten Schule. Die Lehrer waren strenger, die Regeln härter. Hier würde ich die Schule nie schaffen, das war mir jetzt schon klar. Hier schaffte ich gar nichts. Man sollte meinen, hier würde ein neuer Abschnitt meines Lebens anfangen, hier würde ich endlich glücklich leben, doch das ist es nicht. Ich kann sagen, dass es hier die bisher schlimmste Zeit meines Leben ist. Nein. Ich hatte mir vorgenommen, nicht mehr nachzudenken. Wenn ich realistisch dachte, dann sollte ich wenigstens nicht nachdenken müssen. Im Heim konnte ich so am besten umgehen. Ich konnte und durfte es mir nicht erlauben, darüber nachzudenken, wie es hier war, was für ein Gefängnis das hier ist.

Auch hier existierte meine Scheinwelt. Ich brauchte sie und gerade in der Situation, in der ich mich befand, wollte ich sie natürlich bei mir haben und auf keinen Fall vertreiben. In den letzten zwei Wochen brauchte ich sie mehr, denn je zuvor.

Das Schlimmste hier war nichtmal das, was sie mir antaten, sondern vor allem, dass alles unbekannt war. Zuhause hatte ich Gewohnheiten. Ja, die kleine versiffte Wohnung mit der gestörten Mutter war mein Zuhause, wo ich wusste, wo ich dran war. Die Highschool war mir bekannt, die Schüler und Lehrer, alles war Gewohnheit.

Und... Nein, dieses Thema war tabu.

Es war, als hätte ich mir eine Wand aufgebaut und immer, wenn meine Gedanken es nur wagen sollten, in die Nähe dieses Themas zu kommen, ging es einfach nicht mehr weiter.

Das Essen. Denk über das Essen nach. Es machte satt. Hier wurde ich satt und die Lebensmittel waren auch nicht abgelaufen, sodass ich keine Magenkrämpfe bekam, wie es zuhause der Fall war. Ja, es war immer noch meine Zuhause. Dieser Ort hier war es jedenfalls nicht.

Vor mir am Tisch saß Jonas. Auch alleine, so wie ich. Ich wusste nichts über ihn, außer dass er im Wartezimmer der Therapeutin immer in der rechten Ecke saß und sich Automagazine reinzog. Er war nach mir dran, das hieß dienstags um 15:00 Uhr. Ich hatte keinen blassen Schimmer, warum er therapiert wurde, warum er hier war, einfach gar nichts.
Der Gong ertönte, einmal, zweimal. Ich erhob mich und ging zu den Abfallcontainern, welche in der Mitte der Cafeteria standen. Das Essen darein, Besteck auf das Wägelchen daneben und das Tablett legte ich auf den Abfallcontainer drauf. Danach begab ich mich träge zu den Unterrichtsräumen, wo für heute die letzte Schulstunde stattfinden wird.

"Hi, Mr. Jefferson", sagte Nancy und spielte mit einer ihrer dunkelblonden Haarsträhnen, während unser junger Mathelehrer den Raum betrat. Nancy war hier vielleicht so etwas wie Clare auf meiner Schule gewesen, nur brutaler. Und cleverer und nicht ganz so klischeehaft und oberflächlich wie Clare. Doch war mir Clare tausend mal lieber gewesen.
Mr. Jefferson lief tatsächlich rot an, als Nancy seinen Namen erwähnte. Mensch, der Lehrer konnte es ja nicht noch offensichtlicher machen, was da ablief! Nancy machte da aber auch kein großes Geheimnis daraus, jeder wusste es einfach. Und was sollte ihr auch schon groß passieren? Sie war skrupellos, ihr war es egal, was die Anderen von ihr dachten und es gab keine Eltern, vor denen sie sich hätte schämen müssen. Ganz im Gegenteil zu Mr. Jefferson, der könnte natürlich dafür gefeuert werden. Keiner hatte es bisher dem Direktor gesteckt, und zwar nicht, weil man ach so großes Mitleid mit ihm hatte, nein, aus Angst vor Nancy. Ihr Spielzeug wäre dann weg. Sie würde herrausfinden, wer es war und weiter wollte ich nicht denken. Es war grausam genug, was sie Anderen zusammen mit ihrem Gefolge, das ihre Anführerin bewunderte und gleichzeitig fürchtete, antat.
"B-bitte öffnet eure Bücher auf Seite... also auf der Seite 53", stammelte Mr. Jefferson, während er nicht drumherum kam, immer wieder Nancy anzustarren, die in der ersten Reihe saß. Ich hatte das Glück direkt neben ihr zu sitzen, so bekam ich auch alles mit. Und ich meinte nicht den Unterrichtsstoff. Während den Schulstunden mussten wir unsere Schuluniformen tragen. Weiße Bluse, Rock und Strumpfhose. Während Mathe aber, kam Nancy nicht umhin ihre Strumpfhose samt Slip einfach wegzulassen und die oberen Knöpfe der Bluse einfach offen zu lassen. Dieses siebzehnjährige Biest machte die Mathestunden unseres Lehrers zur Hölle. Stundenlang versuchte er ihr nicht unter den Rock zu schauen, scheiterte aber gänzlich. "Mr. Jefferson, kommen sie mal bitte her, ich verstehe hier eine Aufgabe nicht so ganz", ertönte neben mir die bestimmte, volle Stimme von Nancy.
Ich verstand die Aufgaben auch nicht. Ich verstand gar nichts aus diesem verdammten Buch. Mit meinen Haaren verdeckte ich mein Gesicht, als Mr. Jefferson auf Nancy zuging. Er ging in die Lücke zwischen meinem und ihrem Tisch, sodass sein Hintern Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war. Angeekelt rutschte ich, so weit es ging, weg. Nicht, dass er hässlich war. Es war viel plausibler, er war einfach ein perverses, hormongesteuertes Schwein. So hörte ich trotzdem die Worte, die Nancy ihm zuraunte. "Vielleicht könnten Sie mir die Aufgaben nach der Stunde... etwas ausführlicher erklären." Ich konnte mir schon vorstellen, wie sein Blick auf ihren nicht gerade dezenten Ausschnitt und den Inhalt darin schnellte und sie ihn aus ihren dunkelblauen, etwas schrägstehenden Augen ansah.

Nach dieser sinnlosen Mathestunde verließ ich mit all den anderen Schülern, welche auch im Heim wohnen, das Schulgebäude und ging durch den Gang, der Heim und Schule verband, die Treppe hoch, um in den Flur zu gelangen, auf dem sich mein Zimmer befand. Dort durfte es dann heißen, zwei Stunden nichts zu machen, um danach nach draußen zu gehen, wo Mrs. Hood uns zweimal um den Platz jagen wird, von wegen "Freizeitsport".

Ich fischte den Schlüssel aus meiner Hosentasche und schloss die Tür auf.

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