Kapitel 19

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Nein! Das durfte verdammt nochmal nicht wahr sein! Und er meinte noch, ich sollte ihn doch erstmal erklären lassen, damit ich es verstehen würde! Dachte er wirklich, ich sollte diese Erklärung auch nur ansatzweise verstehen oder nachvollziehen können!? Ich stürmte in mein Zimmer und wanderte unruhig hin und her. So ein verdammtes Arschloch! Vor lauter Wut schlug ich auf alles ein, was ich zu fassen bekam. Mein Schreibtisch, meine Kissen, mein Bett... schließlich auch der Spiegel. Wie in Zeitlupe sah ich zu, wie der Spiegel klirrend zerbrach. Ich hörte schlagartig auf zu schreien... Fasziniert schaute ich zu, wie das Blut aus einer Schnittwunde an meiner Hand herunterlief... Es war sehr, sehr rot. Doch das war noch nicht genug! Ich wollte mein ganzes Zimmer zerstören, denn Jack und ich hatten es zusammengestaltet und ich wollte nicht länger ein Zimmer haben, das durch Jack entstanden ist! Mit voller Wucht trat ich schreiend gegen die Wand, wo nun ein schöner großer Schuhabdruck zu sehen war! Was jetzt? Die Schere! Das war eine feine Idee. Ich kramte in einer Kiste und holte eine Schere hervor. Grinsend ging ich mit ihr zu meinem Kleiderschrank. Ich öffnete die Schranktür.

Mir liefen Tränen über die Wangen, während ich all meine Klamotten zerfetzte. Ich schrie einmal besonders laut auf, als ein hässlicher Wollpulli einfach nicht kaputtgehen wollte! Er stank nach Schweiß und war hellbraun. Ich wusste noch, wann ich ihn bekommen hatte.

Vor zwei Jahren, war ein besonders kalter Winter. Ich fror unglaublich und bat eines Tages meine Mutter, sie solle mir doch einen warmen Pulli geben, alle hätten Pullis an und keiner würde so frieren wie ich. Mürrisch ging sie zu ihrem Kleiderschrank und zog aus der hintersten Ecke einen großen, hässlichen Pulli hervor. "Da, der ist für dich und jetzt beschwer dich nicht mehr, dir würden irgendwelche Klamotten fehlen!", sagte sie damals zu mir.

Mit einem Ruck teilte die Schere den Pulli entzwei. Endlich! Ich arbeitete mich weiter systematisch durch meine Klamotten. Jedes einzelne zerstörte ich. Jedes einzelne, hässliche Kleidungsstück.

Stunden vergingen und ich war immer noch damit beschäftigt, die Pullis, Hosen, T-shirts, Unterwäsche und Strümpfe wieder und wieder zu zerteilen. Es war eine unglaublich befreiende Beschäftigung. Schnipp schnapp. Und noch einmal.

Plötzlich wurde die Tür mit einem Ruck aufgerissen. "Wa-?", fuhr ich überrascht herum. Stille. Und dann Schreien.

"Was machst du da?! Hast du völlig den Verstand verloren, Kind?! Das ist krank! Du bist krank!", schrie meine Mutter fassungslos. Ich wurde unglaublich trotzig und wütend. Ich war nicht krank, sondern meine Mutter! Sie war schuld, dass ich vom Leben keine Ahnung hatte, dass ich mich von der Gesellschaft so unterschied, äußerlich und innerlich, dass ich so war, wie ich war! "Du bist am allem schuld! Du hast dich nie um mich gekümmert! Ich habe kein Leben, sieh mich doch an, Mom! Ich kann einfach nicht mehr!", schleuderte ich ihr unter Tränen entgegen. In mir machte sich unglaubliche Verzweiflung breit. Ich wollte nicht mehr!

In dem Gesicht meiner Mutter spiegelte sich Schock und Überraschung, als sie zurückstolperte und die Tür zuknallte. Jetzt war sie auch noch weg! Alle waren weg! Ich war alleine. Alleine. Für immer. Niemand war da. Niemand wird je wieder für mich da sein. Jetzt ist es soweit, dachte ich mir. Jetzt hat's die Scheißwelt geschafft. Sie hat's geschafft. Aber vorher wollte ich noch allen, aber auch wirklich jedem, mit dem ich jemals was zutun gehabt hatte, ein schlechtes Gewissen bereiten. Ich setzte mich an den Schreibtisch und holte Blätter und Stifte hervor.

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