HARRY
Sie wollte mir etwas erzählen. Wenn das nicht der wirklich ultimative Vertrauensbeweis war, dann verstand ich Frauen vollends nicht. „Wenn du etwas loswerden willst." Ich versuchte so weit wie möglich, mich wie ein Gentleman zu benehmen und hatte sie damit wohl schon ziemlich gut auf mich aufmerksam gemacht. Also führte sie mich zu dem Gästezimmer, in dem ich sie schon einmal gesehen hatte und ließ mich dort auf die Couch fallen. Ich musste schon sagen, dass ich ziemlich aufgeregt war, mit ihr in einem Raum zu sein. Auch wenn ich jetzt wohl eher mein Mitleid hervorkramen sollte. Sie setzte sich neben mich auf das Sofa und begann zu erzählen. Von ihrer Mutter, die Pauls Schwester war und schreckliche Alkoholikerin war. Und dass sie bei einem Autounfall gestorben war. Von ihrem Onkel John, der sie einfach so abgeschoben hatte und Paul noch nicht einmal erzählt hatte, dass seine Schwester gestorben war und alles ihr überlassen hatte. Und dass sie seit dem Tod ihrer Mutter kein Hungergefühl mehr hatte und es deshalb nicht als besonders wichtig ansah, zu essen. Ich war geschockt und hegte starke Mitleidsgefühle für dieses Mädchen, in das ich mich so sehr verliebt hatte. „Also gehen wir bitte irgendwo anders hin, ich möchte mich ablenken. Bitte", löste sie mich aus der Leere, die sich in meinem Kopf ausgebreitet hatte. Ich nickte und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie errötete leicht und lächelte ebenfalls. Sie zog sich Schuhe an, nachdem ich ihr versichert hatte, dass wir für das Restaurant keine besonders schicke Kleidung gebrauchen konnten, in das ich sie ausführen wollte. Sie sah noch kurz nach ihrer Hündin Evergreen, die gerade zusammen mit Pauls Hund einigen Vögeln hinterher jagte. „Ich kann diesen Hund überhaupt nicht leiden", meinte sie giftig. „Dein Hund ihn aber schon", konterte ich.
Die Fahrt verlief still, doch ich hatte nichts gegen diese Stille. Ich parkte an einem Restaurant, in dem ich schon öfters war und das sehr gut kochte. Na dann ging es daran, zu versuchen, sie dazu zu bringen, den ganzen Teller leer zu essen.
ARIANA
Auf der Fahrt sah ich die ganze Zeit die vorbeistreifenden Pflanzen an, um mich von der angespannten Stille abzulenken. Er hatte überhaupt nichts gesagt, kein Wort. Wahrscheinlich war es eine komplett falsche Idee, überhaupt mit ihm mit zu kommen. Warum konnte ich nicht einfach wieder ganz plötzlich in meinem Bett liegen und die Decke anstarren? Ich kam mir wie der letzte Vollidiot vor. Und auch noch dieser spottende Kommentar als ich das mit Green erwähnt hatte. Am liebsten würde ich mir mit der Hand auf die Stirn schlagen, das kam aber wohl etwas seltsam rüber. Ich musste nur diesen Nachmittag überleben und dann konnte ich ihn immer noch für immer abservieren. Er parkte den Wagen vor einem asiatischen Restaurant und ich stieg aus dem Wagen. Das Aussteigen brauchte man schon mal nicht in die Länge zu ziehen. Als wir den Raum betreten hatten, kam uns eine kleine Asiatin entgegen und die beiden redeten in schnellem Englisch miteinander, von dem ich nur ein paar mickrige Wortfetzen zu verstehen glaubte. Endlich wies sie uns zu einem Tisch und wir nahmen Platz. Harry bestand darauf, dass ich ein drei- Gänge- Menü bestellte, woraufhin ich kurze Zeit später vor einem wirklich riesengroß aussehenden Suppenschälchen saß. Schon beim ersten Bissen verkrampfte sich mein Magen und ich musste trocken schlucken, damit es mir nicht jetzt schon hoch kam. Harry hatte bisher nicht ein Wort gesagt. „Schmeckt es dir nicht?" Er blickte mir direkt in meine Augen, als würde er dort nach einer Antwort suchen. „Doch, ich bin es wohl einfach nicht mehr gewohnt, etwas warmes zu mir zu nehmen", meinte ich, das Thema nicht weiter beachtend. Harry verwickelte mich in ein lockeres Tischgespräch, in dem er von seiner Familie, der Band und dem Leben hier erzählte, sodass ich gar nicht merkte, dass ich die Suppenschüssel komplett leer gegessen hatte. Ein unangenehmes Brennen breitete sich in meiner Magengegend aus und ich versuchte verzweifelt, den Reiz, das Essen hier auf den Tisch zu kotzen, los zu werden. Schnell nahm ich mein Glas Mineralwasser in die Hand und trank es in wenigen Schlucken leer. Langsam begann ich, mich wieder zu entspannen. „Geht es wieder?", fragte Harry, der meinen kurzzeitigen Ausbruch von Übelkeit wohl bemerkt hatte. Ich nickte und schenkte ihm ein hoffnungsvolles Lächeln. Gleich im Anschluss an die Suppe wurde eine glücklicherweise nicht besonders große Portion Shrimps und Nudeln serviert. Wäre dies eine andere Situation, hätte ich diesen Teller innerhalb von fünf Minuten leer gegessen. Doch ich ließ mir dafür eine geschlagene halbe Stunde Zeit. Auch wenn jeder einzelne Bissen genug Zeit hatte, um komplett einzeln verdaut zu werden, fühlte ich mich wie ein Luftballon, in den man zu viel Luft gepumpt hatte, und der bei der leisesten Berührung sofort platzen würde. Ich bestellte mir noch ein Glas Wasser, irgendetwas sagte mir, dass ich diese Mahlzeit nicht auskotzen würde, selbst wenn mein Magen das wollen würde. Ich trank das Glas aus, woraufhin mir einige Zeit lang schwarz vor Augen wurde und ich nur noch Sterne sah. Danach entschuldigte ich mich kurz und schleppte meine überlasteten Beine zur Toilette, wo ich mich erschöpft fallen ließ. Ich war sogar zu müde und entkräftet, um mich aufzuraffen geschweige denn die Mahlzeit aus mir heraus zu speien. Kurz bevor ich eingeschlafen war, schreckte ich auf, als die Tür des Toilettenraums zu fiel. Ich lauschte kurz, doch die Person, die in die Damentoilette gekommen war, ging sogleich auf eine der Klokabinen zu. Kurz danach hörte ich es lautstark plätschern. Aufgeweckt aus meinem Nickerchen erhob ich mich schwerfällig, drückte zur Vollständigkeit die Klospülung und machte mich etwas wacher auf den Weg zum Waschbecken, wo ich meine Hände kurz unter den angenehm warmen Wasserstrahl hielt. Als ich wieder bei dem Tisch angekommen war, machte ich mir gar nicht erst die Mühe, mich wieder zu setzen, ich bat Harry sofort, wieder gehen zu können. Er legte das Geld auf den Tisch und über irgendwelche belanglosen Dinge schwatzend gingen wir wieder zu seinem Auto.
Ich musste mich auf der Fahrt konzentrieren, nicht von den gleichmäßigen Motorengeräuschen in den Schlaf gezogen zu werden. Wie hatte ich es denn jemals aushalten können, so viel in mich hinein zu stopfen? Harry schaltete das Radio an und tippte mit seinen langen schlanken Fingern den Takt des Liedes nach und meine müden Gedanken stellten sich vor, wie er mir mit ihnen meine langen Haare aus meiner Stirn strich. Verwirrt und geschockt wandte ich meinen Blick ab und starrte die vorbeiziehende Landschaft an. Bei Pauls Haus angekommen, hatte ich insgesamt 13 riesige Anwesen gezählt. Sie alle ähnelten Pauls stark, auch wenn sie nicht von einem dichten Wald sondern eher von riesigen Wiesenflächen umgeben waren. Als er den Motor abstellte, sah ich Green auf das Auto zu stürmen. Paul war wohl mit seinem Kläffer anderswo unterwegs, was meinen aufblühenden Groll wieder in Luft auflöste.
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The New Beginning
Romance"Und, hast du schon die Liebe deines Lebens gefunden?" In der Hoffnung auf eine schnulzige Liebesgeschichte aus seinem Privatleben sehe ich von meiner Zeitschrift auf und stütze mein Kinn auf meine Hand. Doch seine Antwort soll alles noch komplizie...