ARIANA

Ich starrte auf die kahle grau wirkende Wand vor mir. Ich wusste nicht, ob Stunden, Minuten oder Sekunden vergangen waren. Immer wieder waren Leute an mir vorbei gegangen. Immer wieder hatten sie mich komisch angesehen und waren weiter gestürmt.

Eltern mit Kindern, allerlei Leute mit Schienen und Gipsen an sämtlichen Körperteilen. Heulende, sich festhaltende Familien. Mich würde niemand festhalten. Ich würde mich selbst festhalten müssen. Wenn ich scheitern würde, würde es niemanden stören.

Irgendwann kroch meine Hündin Evergreen unter meinem Sitz hervor und machte in eine Ecke. Teilnahmslos sah ich ihr dabei zu. Dann fiel mein Blick wieder auf die Uhr vor mir, deren Zeiger auf ein paar vom runden Rand abstehende Striche zeigten.

Evergreen gesellte sich wieder zu mir. Der süßliche Geruch stieg mir in die Nase, was mich wenigstens ein bisschen ablenkte. Aus dem Augenwinkel sah ich den reuevollen Blick meiner Hündin und tätschelte ihren Kopf. Eine pummelige, blonde Schwester sah mich von oben herab an und ich erwiderte ihren Blick mit müden Augen, bis sie sich daran machte, den Haufen zu entfernen.

Ich wartete wieder, die kahle Wand anstarrend, bis die eine Nachricht einkommen würde. Dass sie über dem Berg sei. Dass ich sie in einem Monat wieder holen könnte. Dass wir einen Neuanfang machen konnten. Sie war Trinkerin, aggressiv, kein bisschen Verantwortungsbewusst. Aber ich liebte sie.

Ein Arzt blieb vor mir stehen. „Sind Sie die Tochter von Juliette McGrovay?", fragte er mich. Meine Mutter hatte amerikanische Wurzeln, weswegen ich auch keinen deutschen Namen hatte. Ich nickte vorsichtig, mit dem unwohlen Gefühl, dass ich das gar nicht wissen wollte, was er mir zu sagen hatte.

„Nun ja, ich muss Ihnen wohl eine schlechte Nachricht überbringen", begann er vorsichtig, doch ich raste sofort in den Raum, in dem ich sie zu liegen glaubte. Als ich ihr eingefallenes, bleiches Gesicht sah, fühlte es sich so an, als würde sich eine eiserne Hand um meine Lungen legen und die Luft aus ihnen heraus pressen.

Ich stolperte einige Schritte zurück und drückte meine Hand auf meinen Brustkorb, um den stechenden Schmerz zu bekämpfen, der sich in mir verbreitete. Green war langsam auf sie zu getrippelt und legte die Vorderpfoten auf die Bettkante. Sie schnüffelte an ihrer früheren Herrin und stieß einen klagenden Heuler aus, der mich tief berührte, als sie ihren Tod bemerkte.

Das war das Startsignal, das ich Greens Leine nahm und halb erstickt schluchzend aus diesem Gebäude raste. Aus dem Gebäude, wo ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Als ich die Eingangstür passiert hatte, kotzte ich auf den mit Teer überzogenen Boden.

Der Anblick von ihr würde mir nie aus dem Kopf gehen. Das war einerseits positiv und auch negativ, jedenfalls wenn ich mich mit dem Schmerz abgefunden hatte. Plötzlich wurde mir alles zu viel. Ich raufte meine Haare und schnappte nach Luft.

Danach begann ich wieder, zu rennen. Klischeehafter Weise fing es auch noch an, zu regnen. Ein richtiges Sommergewitter war ausgebrochen. Wenigstens konnte man es dann nicht sehen, wenn ich anfangen würde zu heulen, was bisher noch nicht geschehen war.

Ich bekam sehr große Lust, mich bloß noch in meinem Bett zu verkriechen und nie wieder raus zu kommen. Abrupt blieb ich stehen. Wohin ging ich denn da eigentlich? Ich bewegte meinen Kopf in die Richtung, in die die weiße Hündin meine Hand zog. Sie zitterte stark und war ebenfalls triefend nass.

Dann gaben meine Knie unter dem Schmerz, der auf meinen Schultern lastete nach, ich ließ mich auf den Boden sinken und ließ den ersten Tränen freien Lauf. Sie wollte gar nicht mehr aufhören, ich konnte nichts mehr steuern, was ich nicht schlimm fand, da es mir irgendwie ein bisschen des Schmerzes abnahm. Nach kurzer Zeit kuschelte sich Evergreen an mein Bein, das ich fest mit meinen Armen umschlossen hatte.

Ich konnte nicht sagen, wie lange ich da saß, aber irgendwann schüttelte mich jemand an der Schulter. „Hallo? Kann ich Ihnen helfen?", vernahm ich die vertraute Stimme meines Onkels, John. Ich sah hoch in seine rettenden Augen. „Ariana!", rief er und ich fiel ihm um den Hals. Sanft schob er mich wieder weg. „Komm mit zu mir nach Hause", meinte er mit beruhigender Stimme. Ich nickte.

Zusammen mit Green ließ ich mich auf seinen Rücksitz plumpsen. Die ganze Fahrt über rannen mir weiterhin die Tränen über die Backen und John plapperte, dass meine Tränen nicht gerade wie Freudentränen aussahen und alles Mögliche andere, wobei ich ihm aber nicht ganz folgte.

Als wir angekommen waren, hatte sich sein Gesichtsausdruck versteinert. „Du hast sie immer gemocht", erwähnte ich unnötigerweise. Als meine Mutter Trinkerin geworden war, hatte er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen und schon fast 3 Jahre lang kaum mehr Kontakt zu ihr, seiner einzigen Schwester, gehabt. Und dann war jetzt alles kaputt. Durch einen Autounfall. Sie war betrunken und doch wollte sie einkaufen, da ich sonst nichts zu essen gehabt hätte.

Ein so unnötiger Grund. Warum hatte ich sie nicht einfach aufhalten und zur Not die Autoschlüssel verstecken können? Doch ich hatte keine Ahnung. Vorsichtig zog er mich aus seinem Wagen und nahm Greens Leine. Bei ihm Zuhause lag ein schwarzer Spitzen- BH über der Sofalehne, den ich nicht weiter beachtete, als ich mich auf das Sofa plumpsen ließ. Jetzt waren wir schon so lange außer Kontakt, dass ich es noch nicht mal wusste, wenn er eine Freundin hatte.

Meine Tränen verschleierten mir nach wie vor die Sicht und ich wickelte mich auf der Couch in eine Decke ein, auch wenn ich nicht wissen wollte, was vorher damit passiert war. John legte noch ein paar Decken auf meinen von Schluchzern geschüttelten Körper, wahrscheinlich, damit ich mich nicht erkältete.

The New BeginningWo Geschichten leben. Entdecke jetzt