Enids Puls pochte in ihren Ohren, ihr Atem ging schwer. Schweißtropfen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Nachdem sie erstmal eine halbe Stunde lang Fitnesstraining über sich hatte ergehen lassen dürfen, hatte man sie seit zwanzig Minuten mitsamt Trainer Mark an den Boxsack befördert. Der erklärte ihr für den heutigen Tag erstmal den richtigen Stand und die Haltung. Gegen Ende hin durfte Enid sogar ein wenig in den Sack boxen.
Sie musste zugeben, es machte Spaß, mehr als sie gedacht hätte. Ihr Kopf konnte endlich mal wieder richtig leer werden, weil ihr Körper all ihre Konzentration beanspruchte. Und sie konnte endlich ihren aufgestauten Gefühlen freien Lauf lassen.
"Wow, du haust ja ganz schön rein, im wahrsten Sinne des Wortes", lachte Mark, der übrigens überaus attraktiv war.
Als das Training dann schließlich vorbei war, fühlte Enid sich so gut wie lang nicht mehr.
Bald werde ich wissen, wie ich mich richtig wehren kann. Und vor allem fühle ich mich gerade so ausgelaugt und emotional stabil, nicht mal Elijah könnte mich zum Heulen bringen.
Auf dem Weg zur Umkleide dachte sie daran, was er gestern mit ihr gemacht hatte. Bei dem Gedanken daran fühlte sie sich schlecht, aber ein kleiner Teil von ihr hatte zu ihrem Bedauern Gefallen daran gefunden. Allerdings wollte sie so einen intimen Moment eigentlich mit jemandem teilen, den sie liebte oder zumindest mochte, nicht mit einem Arschloch wie Elijah.
Sie seufzte. "Was geschehen ist, ist geschehen. Ich würde ja sagen, ich will nicht, dass es nochmal passiert, aber..." Den letzten Teil beendete sie in Gedanken, weil sie bemerkte, dass eine andere Frau den Flur betrat.
... es hat sich gut angefühlt. Aber auch verdammt unheimlich. Wenn uns jemand erwischt hätte, hätte er sogar Recht damit gehabt, das als Erpressung zu verwenden, denn das wäre furchtbar gewesen.
Enid betrat die Damenumkleiden, in denen alles in Rot- und Grautönen gehalten war. Innerhalb von zehn Minuten hatte sie sich umgezogen und verließ das Studio. Mark winkte zum Abschied. Er war nett, so wie die meisten Männer. So jemand wie Elijah war eine Ausnahme. Beim Rausgehen verfluchte sie sich dafür, dass sie schon wieder über ihn nachdachte.
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Um sechs Uhr musste Enid nochmal zu einer Abendvorlesung, für die sie zum Glück bereits alles vorbereitet hatte. Es handelte sich um Wirtschaftsenglisch, also nichts sonderlich Anspruchsvolles, zumindest nicht bei dem Dozenten. Sie wohnte nicht weit weg von Universitätsgelände und so verbrachte sie bis um viertel vor sechs ihre restliche Zeit damit, ihr Zimmer aufzuräumen, denn der Name Wohnung wurde diesen zusammengedrängten Räumlichkeiten alles andere als gerecht. Dennoch hatte sie diese so schön wie möglich eingerichtet, denn es gab wenig, was ihr mehr Freude bereitete. Sie liebte dunkles Holz und alte Möbel, die aussahen, als hätten sie mehr erlebt als Enid selbst. So besaß sie ein opulentes Holzbett mit hohem Kopfende, in das wunderschöne Rosen geschnitzt waren. Es stand direkt unter dem großen Fenster, welches mit zahlreichen weißen Vorhängen geschmückt war, damit keiner von der angrenzenden Straße hineinschauen konnte. Daneben stand ihr Schreibtisch, ein schmaler Sekretär, den sie beim Trödel für einen Spottpreis erstanden hatte. Er besaß Verzierungen in der Form von Blumen aus Perlmutt und abgeblätterter Farbe auf den Schubladen.
Enid erinnerte sich noch genau an den Kommentar ihrer Tante, als sie das Möbelstück angeschleppt und stolz verkündet hatte, dass sie nur achtzig Euro zahlen hatte müssen. "Du hast mit deinen achtzehn Jahren bereits ein richtiges Händchen für Schnäppchen."
Da konnte Enid ihr bis heute nicht widersprechen, sie liebte Schnäppchenjagden.
Über dem Schreibtisch hing das Bild eines Stillebens, welches die hohe See zeigte. Es war ein Druck, welcher Enid immer wieder aufwühlte und beruhigte zugleich. Das tiefdunkle, intensive und doch so schlichte, gefasste Blau in einem aggressiven Tanz mit einem dichten mächtigem Grün, welcher zu einer solchen Eskalation führte, dass sich Schaumkronen auf den Wellen bildeten... es war, wie zwei sonst so sanftmütigen Riesen beim Kampf zuzusehen.
Der Handywecker riss sie aus ihrem abermaligen Bestaunen. Sie hatte ganz die Zeit vergessen.
Zügig zog sie sich Jacke und Schuhe an und begab sich dann Richtung Universität.
Englisch verlief unkompliziert. Sie fingen eine Gruppenarbeit an, Enid entschied sich jedoch dazu, alleine zu arbeiten, da andere sie meistens eher ablenkten, als vorantrieben. So war alles nach ihrem Geschmack und sie fühlte sich sehr wohl in ihrer Haut, während sie ein paar Texte übersetzte.
Am Abend telefonierte sie noch mit ihrer Mutter, die in Süddeutschland lebte. Sie sahen sich nicht viel öfter als in den Semesterferien, da es mit der Bahn fast acht Stunden dauerte, zu ihr zu kommen. Enid war bei ihrem Vater aufgewachsen, der zwei Stunden von ihrem Studienort entfernt wohnte und zu dem sie auch engeres Verhältnis pflegte.
Ihre Mutter fragte die üblichen Dinge, wie es ihr ging, wie die Noten waren, ob sie Spaß hatte. Sie erzählte von den Hunden, die ihr Ein und Alles waren und dass sie plante, eine Schmuckkollektion zu veröffentlichen. Sie war Designern, wenn auch größtenteils erfolglos. Eigentlich war sie Einzelhandelskauffrau, aber das hatte sie nicht als ihre "Passion" empfunden, wie sie immer so schön sagte und nun versuchte sie sich unter anderem an - wie Enid fand - hässlichen Stofffetzen. Außerdem redete sie bevorzugt über sich selbst, wie Enid mal wieder feststellen musste, weshalb das Telefonat nach knappen zehn Minuten auch beendet war.
Enttäuscht seufzte sie und schaltete ihren Laptop an, um sich einen Film anzuschauen oder Musik zu hören. Sie überlegte kurz, Alma anzurufen, doch Stephano war heute angereist und die beiden brauchten etwas Zeit für sich.
Warum habe ich keinen Freund? Anscheinend bin ich nicht liebenswert genug... und dumm ja auch, nach Elijahs Meinung zumindest.
Sie schüttelte den Kopf. Er war bloß ein Idiot, der sie verletzen wollte. Sie war nicht dumm, sie war immer Jahrgangsbeste gewesen.
Oder war es gerade dumm, so zu denken?

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Are you my Badboy?
Romance- Für jeden Tag, an dem mich Elija Androwis seit meinem siebten Geburtstag schikaniert, beleidigt oder gedemütigt hat, habe ich einen Euro in mein Sparschwein, welches eigentlich ein dicker brauner Beagle ist, geworfen. Mit achtzehn Jahren hatte ic...