Kapitel 42: Trauer

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Ich kann mich nicht erinnern, ob ich etwas sagte oder ob mir schon die Tränen übers Gesicht liefen, denn alles was ich wahrnahm war dieser dröhnende Schwindel, der meinen Kopf beinahe zum Platzen brachte. Das Blut rauschte laut in meinen Ohren und ich hatte das Gefühl zu fallen, obwohl ich fest im Stuhl saß.
„Die Amme fand ihn reglos in seiner Wiege." Arlisars Stimme klang unendlich weit weg, fast wie eine geisterhafte Erscheinung. „Meister Devid konnte nichts mehr tun. Er war einfach tot. Aree!"
Ich hatte gar nicht richtig mitbekommen, wie ich aufgestanden war, doch meine Knie zitterten unter meinem Gewicht und ich krallte mich an die Tischplatte.
„Bleib hier, Aree!"
Starrten die Leute mich an? Ich weiß es nicht. Auch was für ein Gang das war, den ich entlang lief, wusste ich nicht, ebenso wenig, wie ich nach draußen kam.
Ich glaube ich rannte. Ich glaube ich blieb irgendwo hängen und stürzte. Ich glaube ich weinte. Aber ich weiß es nicht.
Das sind einige Sekunden, Minuten und vielleicht auch Stunden meines Lebens, an die ich mich nicht erinnerte.

Als ich das erste Mal wieder einigermaßen aufwachte aus meiner Trance, saß ich im Gras, ein dicker Stamm in meinem Rücken und üppige Büsche neben mir. Vor mir ein kleiner Teich, der in der Mittagssonne glitzerte. Die Wasserlilien wogen sanft im leichten Wind. Ein eigentlich schöner Anblick, würde er mich nicht so melancholisch stimmen.
Aus den rechten Augenwinkeln bemerkte ich etwas das nicht so recht in das Bild passte. Nicht ganz einen Meter von mir, sah ich schwarze Stiefel, so wie in dunklen Stoff gehüllte Beine.
Träge drehte ich den den Kopf und brachte nicht einmal die Kraft auf, Überraschung zu zeigen.
„Ihr?", fragte ich leise, meine Stimme klang kratzig und seltsam fremd.
Er lächelte leicht. Wie lange saß er schon dort? Und wie lange ich?
„Man sucht Euch." Seine grau-grünen Augen musterten sanft mein Gesicht. Wenn ich wirklich geweint hatte, musste ich schrecklich aussehen.
Müde drehte ich meinen Kopf wieder zurück und legte mein Kinn auf die angezogenen Knie.

„Warum sagt Ihr ihnen nicht wo ich bin."
„Ihr seht nicht so aus, als würdet Ihr gerne von einer Horde Wachen zurück ins Schloss begleitet werden wollen, um Euch da Eurem Verlobten zu stellen und Euer Verschwinden rechtfertigen zu müssen."
„Hm." Ich schloss die Augen. Eigentlich war mir grade alles egal.
„Ich wollte aber sicher gehen, dass Ihr Euch nichts antut. Oder doch noch ganz verschwindet. Das hätte ich mir nicht verzeihen können."

„Wie lange sitzt Ihr schon hier."
Er zögerte kurz. „Eine Weile." Das Lächeln war deutlich aus seiner Stimme zu hören. „Und Ihr?"
Ich zuckte nur die Schultern.
„Das dachte ich mir."
Es raschelte leise und ich glaube er streckte seine Beine aus, aber meine Lider waren zu schwer, als dass ich meine Augen hätte öffnen können.

Eine Weile saßen wir einfach schweigend da. Der Wind raschelte leise in den Blättern über und neben uns und ab und zu plätscherte es beim Teich, wenn die winzigen Wellen sich an den Steinen brachen. Ein Vogel flatterte plötzlich aus den Ästen, doch ich erschrak nicht.
In meinem Kopf herrschte eine seltsame, unbekannte Leere. Nicht einmal mehr das Dröhnen, dass mich durch den Dämmerzustand gebracht hatte, war mehr da. Es war alles einfach schwarz.
„Wollt Ihr drüber reden?", murmelte Demian leise.
Ich wollte reflexartig den Kopf schütteln, aber selbst wenn meine Reflexe noch funktionieren würden, hätte ich mich eventuell noch rechtzeitig gebremst. Reden war vielleicht gut. Vielleicht half es die Leere zu füllen.

„Habt Ihr Geschwister?", fragte ich leise und war mir nicht sicher, ob man mich verstehen konnte, aber offensichtlich hatte er es.

„Ja, einen älteren Bruder. Hias."
Stimmt. Er hatte ihn einmal kurz erwähnt. Gestern Abend... es kam mir beinahe vor, als sei es Jahre her.

„Arley." Augenblicklich kam mir das Bild vor Augen, wie ich ihn das letzte Mal sah. Es war in meinen letzten Minuten in Feste Schneewacht. Er lag in den Armen seiner Amme, schlafend, mit bauschigen, rosafarbenen Wangen, seine wenigen blonden Haare standen verwuschelt von seinem Kopf ab. Ich spürte ein Ziehen unter meinem Nasenrücken und wie sich meine Augen mit Tränen füllten.
„Ich hab mich immer um ihn gekümmert. Wenn Mutter keine Zeit hatte, half ich der Amme. Er war so ein kleiner Engel, er schrie nie viel und begann früh, in der Nacht mehrere Stunden durchzuschlafen." Ich merkte wie meine Stimme immer öfter brach. „Wenn er strahlte, dann bekam er auf der linken Wange immer so ein winziges Grübchen. Niemand anders von uns hat das." Ich schniefte.
„Doch, Ihr habt das", flüsterte Demian und strich vorsichtig eine Strähne hinter mein Ohr. Er musste irgendwie näher gerutscht sein.

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