Kapitel 60: Denn Opfer müssen gebracht werden

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Sämtliches Blut wich mir aus dem Gesicht und mir wurde augenblicklich eiskalt.
Mein Bruder... beteiligt an der Rebellion?
Ich rang nach Luft und presste mich mit dem Rücken gegen die Wand.
Mein eigener Bruder?
Das beklemmende Gefühl in meiner Brust breitete sich aus, raubte mir den Atem. Alles um mich herum begann sich zu drehen. Mir schien es als würden sich die Wände auf mich zu bewegen.
Ich musste hier raus.

Meine Beine fühlten sich unendlich schwer an, als ich mich umdrehte und die ersten Stufen nahm. Trotzdem wurde ich schneller. Ich wollte raus, nur hier raus.
Ich hatte sein Gesicht nicht gesehen, aber ich war mir sicher, wer es war. Nur er trug seine Haare so schulterlang.
Auf einer der Stufen kam ich weit vorn auf und rutschte ab. Noch gerade so konnte ich mich abfangen, doch mein Schienbein und mein Knie schlugen unsanft auf der steinernen Kante auf.
Ein scharfes Stechen fuhr durch mein Bein und ein Schmerzenslaut entfuhr mir, aber ich rappelte mich auf und kämpfe mich weiter, halb laufend, halb auf allen Vieren.
Ich konnte es nicht fassen, einfach nicht begreifen. Am liebsten würde ich weinen, aber der Schock saß noch zu tief, als dass die Tränen fließen könnten.

Oder hatte ich mich geirrt? Hatte das alles doch nichts mit der Rebellion zu tun? Ich wünschte mir, das glauben zu können, doch egal wie man es drehte, das Thema des Gesprächs ließ sich nicht verharmlosen.

Endlich kam ich auf dem oberen Absatz an, trotzdem gönnte ich mir keine Verschnaufpause, sondern rannte weiter.
Ich musste zu Rajan oder zu Odrick oder zu irgendwem!

Die toten Augen starrten von Wänden und Decke auf mich nieder, während ich den Raum durchquerte und die Tür aufriss.
Die Gänge waren genauso menschenleer, wie auf meinem Hinweg. Wie viel Zeit war vergangen? Eigentlich konnte es nicht viel sein, auch wenn es mir fast wie ein halbes Leben vorkam.
Orientierungslos lief ich durch die Gänge.

Hatte ich da hinten eine falsche Abbiegung genommen?

Hier war ich doch gerade schon...

Der Gang hier sieht fremd aus!

Wieso ist hier denn niemand?!

Mit brennender Kehle und rasendem Herz blieb ich endlich stehen und drehte mich ein paar Mal im Kreis. Wie konnte ich mich jetzt auch noch verirren? Mein Bein pochte schmerzhaft, doch ich biss die Zähne zusammen. Dafür war jetzt keine Zeit!
Ich lief weiter und bog noch dreimal ab, bevor ich wieder stehen blieb und mir verzweifelt die Haare raufte. Keine Menschenseele und ich erkannte nichts wieder!
Tränen der Hilflosigkeit und Frustration schossen mir in die Augen.
Warum? WARUM?!

„Aree?"
Erschrocken fuhr ich herum. Eine Gestalt kam aus dem Gang hinter mir auf mich zu.
Ich kniff die Augen zusammen, dann stieß ich erleichtert die Luft aus und lief auf ihn zu in seine Arme.

„Arlisar, den Göttern sei Dank!", nuschelte ich in sein Hemd und drückte mich ganz fest an ihn. Endlich. Endlich fand ich jemanden und dann auch noch meinen großen Bruder!
Doch er umfasste meine Schultern und schob mich auf Armeslänge von sich.
„Aree was machst du hier?", fragte er ernst und sah mir eindringlich ins Gesicht.
„Da waren Rebellen und sie haben der Ermordung des Königs geredet und und und, da war-"
„Warte was?" Er zog die Augenbrauen zusammen. „Langsam, Aree, beruhige dich! Was ist passiert?"

Ich umfasste seine Handgelenke und atmete einmal tief durch, um mich zu sammeln. Er hatte recht, ich musste mich beruhigen. Es würde alles gut werden.

„Im Kellergewölbe der Kapelle", begann ich langsam, doch noch immer zitterte meine Stimme vor Aufregung. „Da waren... Männer und sie, sie haben davon geredet irgendwelche... Pläne voranzutreiben und dass der König schwach sei und-"
„Was hast du um diese Zeit im Keller der Kapelle zu suchen? Oder überhaupt?"
„Das war doch noch gar nicht alles, Arlisar!", rief ich und löste seine Hände von meinen Schultern. „Sie wollen den König ermorden! Ich hab es gehört! Und irgendetwas mit Rajan und-"
„Du redest wirr, Aree. Ich bring dich zurück."

Stern des NordensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt