Kapitel 45: Schwere Aufgabe

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Vermutlich hatte ich bis vor ein paar Monaten noch in einer Seifenblase gewohnt. Mein vergangenes Leben kam mir seltsam fremd und surreal vor, fast schon wie eine Lüge.
Ich war glücklich und wohlbehütet in Schneewacht aufgewachsen, hatte meine Familie und Freunde immer um mich und meine größten Probleme waren es mich gegen Arjons fiese Bemerkungen zu behaupten und Arden davon abzuhalten, sich zu den großen, tollen Schlachtrössern zu schleichen.
Jetzt war mein kleiner Bruder tot und meine Mutter psychisch am Ende. Arlisar war verlobt und kam damit seiner Bestimmung, die Lordschaft zu übernehmen und über Schneewacht zu herrschen erschreckend näher. Auch ich würde heiraten, weit weg von meiner Familie sein und tief im Süden den Rest meines Lebens verbringen. Noch dazu hatte ich mich in einen Konflikt verwickelt, der mich gut und gerne mein Leben hätte kosten können, wäre Willard Sanners besser gewappnet gewesen. Und jetzt war ich kurz davor mich noch einmal in diese Gefahr zu bringen und das voll bewusst.

Ich seufzte und hob den Blick von meinen Fingern. Rajan stand noch immer gegen den Türrahmen gelehnt da, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gegen das Holz gelehnt.
„Bitte, Aree", versuchte er es noch einmal, „Niemand zwingt dich dazu."
Ich schüttelte den Kopf. „Das weiß ich. Aber ich tue es freiwillig."
„Das ist leichtsinnig."
„Mag sein."
Er schnaubte frustriert, löste sich vom Rahmen und war mit wenigen großen Schritten beim Tisch.
„Hör mir zu, verdammt", flehte er und stützte sich mir gegenüber mit den Händen auf der massiven Platte ab. „Wenn Sanners einen Verdacht hegt - was nicht gerade unwahrscheinlich ist, da Odrick ihn mit zwei Dutzend schwerbewaffneten Soldaten zum Umkehren gezwungen hat - und dann irgendwie Wind von der Sache bekommt, dann ist das dein Ende, Aree! Oder was ist wenn Carla anschließend zu ihrem Vater läuft und ihm alles erzählt? Er wird nicht denselben Fehler wie zuvor machen und mit unzureichenden Beweisen und vagen Behauptungen vor Gericht treten! Dieses Mal wird er vorbereitet sein. Und dann können dir weder ich, noch deine Brüder oder sonst wer helfen."

„Was ist mit dem König?", fragte ich und betrachtete ihn möglichst ausdruckslos, auch wenn in meinem Inneren das reinste Chaos herrschte. „Wird er mich einfach verurteilen? Wo er mich doch selber darum gebeten hat?"
„Was soll er denn tun?" Langsam klang er aufgebracht. „Nur weil er König ist, heißt das nicht, dass er sich über seine eigenen Gesetze hinwegsetzen kann! Gut, er könnte es schon, aber was das politisch mit sich bringen würde... Er würde Ansehen verlieren und den Respekt der Hohen Lords." Er stieß sich vom Tisch ab und rieb sich überfordert die Nasenwurzel. „Odrick ist versessen darauf, endlich diese Rebellion zu zerschlagen. Er merkt nicht, was er alles aufs Spiel setzt. Er geht zu weit!"
Der Stuhl schabte über den Boden, als er ihn zurückzog und sich vor mich setzte.
„Aree." Zaghaft nahm er meine Hände in seine. „Der König lässt nicht mit sich reden, deswegen bitte ich dich. Tu es nicht, sprich nicht mit Carla. Ich weiß, du gabst Rick dein Wort, aber niemand kann dich zwingen. Bitte. Ich will dich nicht verlieren." Seine Stimme war nur mehr ein Flüstern und er hauchte einen sanften Kuss auf meine Finger. Der Ausdruck in seinen Augen war pure Verzweiflung. „Du bedeutest mir so viel.."
Ich öffnete leicht den Mund, wollte irgendetwas sagen, aber meine Stimme gehorchte mir nicht. Es war schwer für mich ihn so bedrückt zusehen, fast schon leidend. Ich hatte den Drang ihn in den Arm zunehmen und ihm zu versprechen, dass alles gut werden würde. Doch ich wusste, dass ich das nicht konnte.

Ich hatte etwas Zeit gehabt noch einmal genauer nachzudenken und war zu dem Schluss gekommen, dass es wirklich das Beste wäre, wenn ich mit Carla redete. Sie lebte in einem sehr rauen Umfeld, mit vielen Zwängen und wenig Liebe. Wenn ich es schaffen würde sie zu überzeugen, dass es ein anderes Leben für sie geben könnte und ihr Vertrauen gewann, dann konnte ich einerseits Odricks Erwartungen erfüllen und mich andererseits für das einsetzen, was mich schon eine Weile bedrückte. Außerdem, wenn ich es nicht tat, würde der König seine Drohung wahr machen? Und sie foltern? Allein das wollte ich nicht verantworten.
Rajan nun enttäuschen zu müssen, tat weh - war aber ein unvermeidbares Opfer, welches ich bringen musste, um mit mir selber leben zu können.
„Rajan", murmelte ich, beugte mich vor und legte eine Hand an seine Wange. „Bitte verzeih mir. Aber ich muss das jetzt tun."
Die Hoffnung, die er in seinem Blick getragen hatte, bröckelte als er meine Worte verarbeitete und wich einem Ausdruck von Erschütterung und Fassungslosigkeit. In mir drin brodelte das Mitleid und der Schmerz über seine Bestürzung, doch ich konnte nichts tun.

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