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Mittagessen ist immer so eine Sache. Ich wüsste nicht, wie ich es besser beschreiben könnte als die Tatsache, dass ich es hasse. Jeder Bissen ist eine Qual, zu dem ich mich zwingen muss. Ich möchte das alles nicht essen! Es ist so eklig, dass die mich dazu zwingen, obwohl ich es nicht will.
Ich folge Doktor Schäfer in den Speiseraum, während mir der durchdringende Geruch nach Spaghetti Bolognese den Atem verschlägt und mich fast zum Würgen bringt. Der Raum ist genauso positiv gestaltet wie der Rest der Psychiatrie. Die Wand ist rot gestrichen und der Boden kastanienbraun. Viele Wandtattoos dekorieren die Umgebung, alle zeigen motivierende Sprüche, wie zum Beispiel "Ein gutes Essen ist Balsam für die Seele." Im Raum verteilt stehen lauter Vierertische. Die Stühle sind kunterbund und scheinbar zufällig zusammengewürfelt. Ich weigere mich konsequent, auch nur eine Sekunde länger in meinem Rollstuhl zu sitzen als ich es muss und esse deswegen immer auf einem der bunten Stühle. Auch heute wuchte ich meinen Körper mit Gewalt aus dem Rollstuhl und auf den Stuhl. Das Sitzen auf diesem Stuhl entpuppt sich für mir immer als Balanceakt, aber das ist es mir wert.

Wie immer bekomme ich eine Portion vorgesetzt, damit ich nicht fuschen kann. Nun beginnt das tägliche Prozedere: im Essen rumstochern und das laute Knurren meines Magens ignorieren. Ich schaffe das! Auch wie immer habe ich meinen persönlichen Aufpasser bekommen, der darauf achtet, dass ich kein Essen verschwinden lasse. Heute setzt sich Doktor Schäfer neben mich.
Nun muss ich um jeden Bissen kämpfen. Ein paar Nudeln und ein bisschen Sauce verschwinden in meinem Mund und ich fange an zu kauen, während ich das Fett auf meiner Zunge spüre. Mein Magen knurrt laut, was aber glücklicherweise auf Grund der Lautstärke von niemandem gehört wird.
"Ich hab keinen Hunger", sage ich in Richtung des Psychotherapeutens.
"Du isst das. Es ist egal, wie viel Hunger du hast."
"Nein, mir ist schlecht." Ich täusche Bauchschmerzen vor und gucke quälend. Bei manchen ist diese Taktik von Erfolg gekrönt, nicht aber bei Doktor Schäfer. Er kennt mich zu gut dafür, als dass ich ihm etwas vormachen könnte.
"Es ist mir egal. Du isst das jetzt."
"Nein!", antworte ich bockig. Ich kann das nicht essen, dann werde ich fett! "Doch und es ist mir egal, was du dazu sagst."

Ich schüttle den Kopf und lege die Gabel auf den vollen Teller. "Bitte, mir ist schlecht."
"Nein. Du schaffst das!" Er scheint genauso entschlossen zu sein wie ich. So oft habe ich schon mit ihm und anderen diskutiert und nur sehr selten konnte ich die Diskussion für mich entscheiden. Bei ihm habe ich es noch nie geschafft, er ist unerbittlich.
"Gut", antworte ich und verdrehe meine Augen. Es ist aussichtslos. Noch etwas von dem leider sehr leckerem Essen landet in meinem Mund und ich schlucke es nach einigen Momenten angewidert herunter. "Sehr gut", lobt mich Doktor Schäfer, als ich einen Schluck Wasser trinke.
"Ich kann das nicht", flüstere ich leise und hoffe, dass er nichts mitbekommen hat. Während ich langsam einen Bissen nach dem anderen herunterwürge, leert sich der Speiseraum langsam, bis ich am Ende fast alleine dasitze. Nur noch ein Mädchen sitzt mit ihrer Aufpasserin daneben und tut sich genauso schwer im Essen wie ich.
"Bitte lassen Sie mich den Rest wegschmeißen!", bitte ich beinahe verzweifelt Doktor Schäfer, als sich nicht mehr viel auf dem Teller befindet und ich das Gefühl habe, mich jeden Moment übergeben zu müssen. "Nein", lautet seine pragmatische und äußerst knapp gefasste Antwort.
"In Ordnung", gebe ich traurig auf und esse langsam auch den Rest auf. Nun sind Doktor Schäfer und ich die letzten in diesem Raum. "Ok?", frage ich genervt nach, als ich endlich aufgegessen habe.
"Ja, gut gemacht", lobt er mich nun. "Wir sehen uns dann morgen."
"Bis dann", antworte ich, wuchte mich zurück in den Rollstuhl, stelle meinen Teller zu dem anderen schmutzigen Geschirr und fahre schnell aus dem Raum, bevor er auf die Idee kommt, mich doch noch zuzulabern.

Kurz danach hänge ich über der Toilette und wische mir die Kotze mit zitternden Händen vom Gesicht ab. Ich hasse diesen Geschmack, aber das waren viel zu viele Kalorien. So oft wurde mir von so vielen Menschen gesagt, wie fett ich wäre, dass ich den Gedanken einfach nicht ertragen kann, auch nur ein Gramm zuzunehmen. Deswegen muss ich mich halt nach so einem Essen übergeben. Wenn Doktor Schäfer das jetzt wüsste, dann würde er mir wieder einen Vortrag halten. Er würde sich nur darin bestätigt fühlen, dass ich hier rein gehöre. Meine Physiotherapie musste ich auch schon abbrechen, weil ich mich anscheinend nicht richtig ernähre.
Wenn das nicht total unrealistisch wäre, würde ich behaupten, dass sich jeder gegen mich verschworen hätte und dass sie mir das alles nur einreden wollen, weil ich nicht so fett bin wie die meisten Anderen. Warum es jeder behauptet, verstehe ich ehrlich gesagt nicht. Ich achte vielleicht etwas mehr auf mein Essen als der Durchschnitt, aber das ist doch nichts Schlechtes.
Nachdem ich mir die Zähne sorgfältig geputzt habe, wasche ich mein Gesicht gründlich mit kaltem Wasser und schaue auf meinen aktuellen Plan. In einer halben Stunde sollen meine Eltern vorbei kommen. Ich hasse diese Besuche! Sie wissen nicht, warum ich so bin wie ich bin und es lässt sie offensichtlich verzweifeln, dass weder sie noch die Psychologen es aus mir rausbekommen. Hinter jeder Aussage von ihnen steht ein gewisser Vorwurf, den ich mir wahrscheinlich nur einbilde. Mein Bruder kommt schon lange nicht mehr mit. Er meinte, dass er mich so nicht ertragen könne.
Gleich muss ich mich wieder rechtfertigen, warum ich so bin, warum ich mich verletze, warum ich mir das Leben nehmen wollte und warum ich nicht so fett bin wie sie. Natürlich habe ich meine Eltern lieb, aber es macht mich kaputt, sie so in Sorge um mich zu sehen. Es zerstört sie, das weiß ich. Schon als ich in diesem Rollstuhl gelandet bin, konnte ich es sehen und seitdem hat es nie aufgehört. Es wurde nur immer schlimmer und schlimmer.

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