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Die halbe Stunde bis zu dem wöchentlichen Treffen mit meinen Eltern verbringe ich darin, eine der Aufgaben zu erfüllen, die ich zusätzlich zu den ganzen Therapien machen muss: Tagebuch schreiben. Richtige Geheimnisse schreibe ich nie in das kleine schwarze Buch. Dafür habe ich viel zu viel Angst, dass irgendjemand zu neugierig ist und einen Blick riskieren möchte. Was dann geschehen würde, habe ich schon tausend Mal in meinem Kopf durchgespielt und ich will es nicht erleben. Stattdessen trete ich in dem Tagebuch die Sachen tot, die ich schon tausend Mal in den Therapiestunden besprochen habe und mache keinen Hehl daraus, wie gut es mir geht und wie unnötig ist das hier alles finde.
Als schließlich meine Eltern anklopfen und unsicher lächelnd hereinkommen, klappe ich das nutzlose Buch gelangweilt zu und begrüße beide mit einer Umarmung von meinem Rollstuhl aus. Beide sehen jede Woche älter aus als vorher. Wahrscheinlich ist das meine Schuld, aber da möchte ich nicht genauer drüber nachdenken. Mein Vater ist ein Mann Mitte vierzig mit früher vollen dunkelblonden Haaren, die aber heute gleichmäßig grau sind. Noch sind seine Geheimratsecken nur zu erkennen, wenn man ihn genauer beobachtet. Er hat türkise Augen und lacht eigentlich ständig, außer, wenn er mich hier besucht. Dann wirkt er immer traurig und besorgt und ein vorher selten gesehener Schatten liegt ständig auf seinem Gesicht. So weit ich mich erinnern kann, hatte er kleine Lachfältchen um die Augen. Heute werden sie von den großen Sorgenfalten auf seiner Stirn verdrängt. Meine Mutter hat dunkelbraune kurze Haare und trägt eine schwarze Brille, die ihre grünen Augen etwas größer wirken lässt. Seit ein paar Wochen bekommt auch sie Falten im Gesicht und wirkt so, als ob ihr eine schwere Last auf den Schultern liegen würde. Keiner von den beiden versucht sich anmerken zu lassen, wie sehr diese Situation sie mitnimmt, aber es ist nicht zu übersehen. Wen würde ein Krüppeltochter in der Psychiatrie nicht mitnehmen?
Mit meinen türkisen Augen und den dunkelbraunen Locken sehe ich aus wie eine Mischung aus den beiden. Das Lachen habe ich von meinem Vater und die Stimme von meiner Mutter. Das einzige, was mich wirklich von beiden unterscheidet, sind die Narben auf meinen Armen und meine gelähmten Beine.
"Wie gehts dir?", fragt meine Mutter besorgt und mustert mich eingehend. Mit dem Ergebnis scheint sie nicht zufrieden zu sein. "Gut", grinse ich und lenke direkt von mir ab. "Und was gibt es bei euch Neues? Wo ist Patrick?"
Mein Bruder lässt sich hier nur sehr selten blicken. Er war erst zwei Mal da und hat mir währenddessen kein einziges Mal in die Augen geguckt. Als großer Bruder hat er sich eigentlich immer um mich gekümmert, aber seit Längerem verstehen wir uns nicht mehr so wie früher. Er scheint meine Veränderung nicht nachvollziehen zu können und hält sich deswegen lieber fern. Ich verstehe es ehrlich gesagt, auch wenn ich mir anderes wünschen würde.
"Er kommt nächste Woche mit. Hat er gesagt." Der Zusatz des letzten Satzes verdeutlicht nur allzu gut, dass er nicht mitkommen wird. Er sagt immer, dass er nächste Woche mitkommt.
"Wollen wir raus?", frage ich nun, ohne es zu vertiefen. Hier wechsle ich immer schnell das Thema und verweile nicht lange auf einem, damit sich keine tiefen Gespräche über meine Probleme entwickeln können. Ich gehe meistens mit meinen Eltern raus, weil dort die Atmosphäre schöner ist als hier in diesen zwanghaft positiven Räumen.
Sie stimmen mit einem Nicken zu und folgen mir nach draußen in den Garten.
"Wie läuft es?", fragt mein Vater, als wir gerade die Tür hinter uns gelassen haben. Wieder eine Frage, die sehr leicht zum Vorwurf werden kann. "Gut", antworte ich hastig und werde etwas schneller. Meine Eltern müssen sich nun beeilen, um mit meinem Rollstuhl und mir mithalten zu können.
"Werden das auch gleich die Psychologen sagen, wenn wir mit ihnen reden?", hakt er nach.
"Ich hab abgenommen", gebe ich nun mit nach unten gerichtetem Blick zu. Dass ich stolz darauf bin, kann ich vor meinen Eltern nicht zugeben. Es fing langsam mit einer Diät an, dann hab ich auf mein Abendessen und schließlich auch auf mein Mittagessen verzichtet. Irgendwann wurde es immer mehr, bis ich schließlich zusammengebrochen bin und hier hingebracht wurde. Über das Essen könnte ich mit meinen Eltern nie reden, sie können es nicht nachvollziehen. Für sie hat Essen nie eine so große Rolle gespielt wie bei mir.
"Wie viel?"
"Nur einen Kilo. Keine Sorge, ich wiege immer noch zwölf Kilo mehr als bei meiner Ankunft." Bei 31 Kilo war bei mir die Grenze erreicht. Eigentlich wünsche ich mir, wieder so schlank zu sein. Hier darf ich aber keine Mahlzeit auslassen, bis ich nicht bei 54 Kilo bin, was immer noch elf Kilo wären. Elf Kilo, bis ich Normalgewicht habe und so fett bin wie alle anderen. Elf Kilo, bis bis zu dem Zeitpunkt, dass ich wieder hässlich bin.
"Hanna!", sagt meine Mutter besorgt. "Du weißt, dass du nicht..."
"Ja Mama!", antworte ich genervt. "Weißt du, ich hab echt keinen Bock mehr. Kann ich nicht einfach wieder nach Hause?"
"Nein, nicht bevor es dir besser geht." Meine Mutter scheint sich zu hundert Prozent sicher zu sein, deswegen möchte ich wieder das Thema wechseln. Noch bevor mir aber eine Idee für ein neues Thema einfällt, fängt meine Mutter wieder an, eine einstudierte Rede vor mir zu halten. So eine Rede kommt fast wöchentlich, aber ich kann es verstehen. Natürlich macht sie sich Sorgen um mich, da sie nicht weiß, warum ich so bin.
"Wir machen uns doch Sorgen um dich. Bitte sag uns doch, was mit dir passiert ist! Wir verstehen ja, dass du Angst hast, wenn dir jemand weh getan hat, dann musst du das jemandem sagen! Erinnerst du dich noch an früher? Da warst du so glücklich."
"Halt den Mund!", unterbreche ich meine Mutter laut. Ich hasse es, an früher erinnert zu werden. Seitdem hat sich viel verändert. "Mir geht es gut und es ist nicht mehr wie früher! Könntet ihr jetzt gehen?"
Auch wenn meine Eltern erst seit fünf oder zehn Minuten da sind, kann ich sie nicht mehr ertragen. Die meisten Treffen enden so. Ich kann es einfach nicht ertragen, die ganze Woche solche Gespräche über mich ergehen zu lassen. Wenn meine Eltern auch noch mit mir über meine Probleme reden wollen, ist mir das meistens viel zu viel. Dann halte ich lieber eine Woche Heimweh aus.
"Nein, wir wollten mit dir darüber reden!", antwortet meine Mutter bestimmt.
"Sag mal, verstehst du es nicht nicht?", fauche ich sie auf einmal wütend an. "Es gibt nichts zu reden! Ich hab nur einmal kurz die Nerven verloren, weil ich in diesem fucking Rollstuhl sitze! Mehr war da nicht!"
"Einmal kurz die Nerven verloren?", braust nun auch meine Mutter auf. "Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts! Du wogst nur noch 31 Kilo!"
"Bitte geht einfach! Und grüßt Patrick von mir."
Ich drehe meinen Rollstuhl um und fahre in Richtung der Psychiatrie. "Nein, Hanna, jetzt bleib mal stehen!"
Halb erwarte ich, dass meine Eltern mich, nachdem ich diese Aufforderung ignoriere, zurückrufen und weiter mit mir reden wollen. Sie lassen mich allerdings davon fahren. Ihre Blicke spüre ich aber noch auf meinem Hinterkopf, bis ich die Eingangstür der Psychiatrie geschlossen habe.
"Fuck!", fluche ich dann, nachdem ich mich vergewissert habe, dass sich keiner auf dem Gang befindet. Meine Eltern werden in zwei Minuten durch diese Tür treten, besorgte Blicke tauschen und dann das Zimmer der Psychologen aufsuchen, um sich über meinen Geisteszustand zu informieren. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was sie alles meinen Eltern sagen dürfen und was nicht, aber ich hoffe, dass sie ihnen nichts sagen dürfen. Sie sollen sich nicht noch mehr Sorgen um mich machen als sie es sowieso tun.
Bevor ich sie treffe, sollte ich lieber schnell verschwinden. Also mache ich mich möglichst schnell auf das Zimmer, das ich mir mit einem anderen Mädchen teile. Für heute habe ich meinen Therapieplan erledigt. Nun möchte ich eigentlich nur schlafen und vergessen, in welcher Situation ich mich befinde.


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Hi :)
Wie gefällt euch die Geschichte bisher? Ich bin für alle Verbesserungsvorschläge offen und werde Fehler sofort berichtigen, wenn ihr mich darauf hinweist.
Danke, falls ihr kommentiert.
_ThatGirl99_

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