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Nachdem ich mich morgens aus unruhigen Träumen quäle, ist diese Emotionslosigkeit verschwunden. Mein Arm tut nicht besonders weh, fühlt sich aber empfindlich an, weswegen ich mich nicht traue, mich gegen die weißen Fesseln zu streuben. Deswegen drücke ich den roten Knopf und warte, bis eine Krankenschwester hereinkommt.
"Würden Sie mich bitte los machen?", frage ich genervt. "Und warum haben Sie bitte meine Beine fixiert?" Wieso sollte man auf die Idee kommen, einem Krüppel die Beine zu fixieren? Das ergibt keinen Sinn. Ich hätte ja nicht einfach weglaufen können.
"Gleich, ja", antwortet die Schwester, ohne auf meinen sarkastischen Kommentar einzugehen. "Doktor Schäfer wollte dabei sein, aber ich kann ihn rufen."
Ich verdrehe meine Augen. Natürlich will Doktor Schäfer wieder dabei sein und sich um mich kümmern. Er versteht nicht, dass ich keine Hand mehr brauche, die mich festhält. Mit zwölf hätte ich eine gebraucht, aber das ist nun vier Jahre her. So langsam kann ich solche Dinge alleine bewältigen.
"Bitte!", fordere ich die Schwester mit den blonden Haaren und den grünen Augen genervt auf. Sie geht wieder aus dem Raum raus und kommt wenige Minuten später mit dem Psychotherapeuten im Schlepptau wieder herein.
"Guten Morgen", wünscht er mir und blickt mich besorgt an.
"Wie meinen Sie das?", frage ich nach, um die Stimmung etwas aufzulockern. Mir ist diese Situation so peinlich, dass ich das erste sage, das mir in den Sinn kommt. Ich möchte das folgende Gespräch so lange wie möglich herauszögern. "Wünschen Sie mir einen Guten Morgen, oder meinen Sie, dass es ein schöner Morgen ist, egal, was wir wünschen; oder dass Sie an diesem Morgen alles schön und gut finden, oder dass man an diesem Morgen gut oder schön sein muss?"
Der Angesprochene guckt mich ratlos an. Wahrscheinlich denkt er nun, ich wäre vollkommen übergeschnappt. Scheinbar kann er mit diesem Zitat nicht viel anfangen.
"Schon mal was von J.R. R. Tolkien gehört?", will ich von ihm wissen, froh, nicht über meine Wunden am Arm reden zu müssen. Sein Gesicht erhellt sich kein bisschen bei diesem Namen.
"Mein Gott, das ist aus dem Hobbit."
"Du magst also den Hobbit?" Glücklicherweise ist er auf meine Taktik angesprungen. Mir ist so oder so klar, dass dieses Gespräch nicht ewig andauern kann und ich das Unvermeidbare nur herauszögere, aber ich sehne mich so sehr nach etwas Normalität.
"Nein, eigentlich nur Herr der Ringe. Kennen Sie das wenigstens?" Ich verschweige ihm, dass ich sowohl Besitzerin des einen Ringes als auch des Abendsterns bin. Das würde etwas zu weit gehen.
"Ja, aber ich habe das nie gesehen." Damit ist klar, dass das Gespräch beendet ist. Ich kann nicht mit jemandem über Herr der Ringe diskutieren, wenn er keine Ahnung davon hat.
"Ok", antworte ich deswegen nur und mache mich auf den unangenehmen Teil des Gesprächs gefasst.
Der bleibt aber vorerst aus. An meinem Blick erkennt der erfahrene Psychologe, auf was ich warte. "Wir reden später darüber, in Ordnung?"
Ich nicke erleichtert und lasse dann zu, dass er meine Fesseln an den Armen und Beinen löst.
Kurze Zeit später humple ich hinter ihm in sein Therapiezimmer, das sich glücklicherweise direkt nebenan befindet. Vollkommen erledigt und mit zitternden Armen lasse ich mich auf einen der zwei Stühle fallen. Da mir erneut schwindelig ist, schließe ich für einen Moment meine Augen.
"Alles in Ordnung?", fragt Doktor Schäfer, nachdem er sich gegenüber von mir hingesetzt hat. Ich nicke und öffne meine Augen wieder. Der Schwindel ist fast verflogen.
"Was macht dein Arm?"
"Alles ok." Es ist ein absolutes No-Go, Wunden zu beklagen, die man sich selbst zugefügt hat. "Tut mir leid, ich war gestern wohl etwas apathisch." Ich lächle den Mann fragend an und suche nach Wut oder Enttäuschung in seinen Augen. Diese ist aber nicht erkennbar. Stattdessen trieft sein Blick von einer tiefen Besorgnis.
"Es tut mir leid, ok?" Hoffentlich aufrichtig schaue ich ihm in die Augen. Es tut mir wirklich leid, ich hätte mich selbst nicht verletzen sollen. Nicht erneut.
"Das ist nicht schlimm", versichert mir Doktor Schäfer. Ich kann nicht erkennen, ob er das ehrlich meint, oder ob er mir mein erneutes autoaggressives Verhalten übel nimmt. Ich wünschte, ich könnte seine Augen lesen, aber sein Blick ist unergründlich. "Aber ich würde gerne verstehen, was seit ein paar Tagen mit dir los ist."
"Was meinen Sie?" Natürlich weiß ich, was er meint, aber ich brauche etwas Zeit, um über die Antwort nachdenken zu können.
"Das weißt du", antwortet der Psychologe, ohne auf meinen Versuch einzugehen, etwas Zeit schinden zu wollen.
"Äh", stammle "Nun ja, das ist so, dass..." Dann breche ich ab, da ich nicht weiß, wie ich mein Verhalten erklären soll. Schweigen breitet sich wieder für einen Moment zwischen uns aus. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die meisten unserer Gespräche in einem Schweigen von mir enden.
"Es tut mir leid", flüstere ich, als das Schweigen unerträglich wird. "Ich will nicht darüber reden."
"Hast du Angst vor jemandem?"
"Vor wem sollte ich hier Angst haben?"
"Johannes?" Hat er unterbewusst ins Schwarze getroffen oder hatte er eine Ahnung? Für einen Moment entgleisen meine Gesichtszüge und mein Mund steht offen. Möglichst schnell versuche ich meine Mimik wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber Doktor Schäfer hat natürlich längst mitbekommen, dass er richtig liegt.
"Was hat er getan?", will er eindringlich von mir wissen.
"Was geht Sie das an?", frage ich im Gegenzug.
"Ich will dir helfen. Du musst uns sagen, was er getan hat!"
Sag es! Sag, was er dir angetan hat! Ich schüttle die Gedankenstimme von mir ab und schweige. "Bitte setzen Sie mich nicht unter Druck!", bitte ich ihn stattdessen nach ein paar Sekunden mit zitternder Stimme. "Ich will Ihnen das nicht sagen."
"Das ist in Ordnung", stimmt mir der Angesprochene beruhigend zu. "Es ist wirklich in Ordnung, dass du Angst hast, aber ich hab doch Schweigepflicht! Du musst uns das alles nicht verschweigen!"
Noch immer sage ich kein Wort, aber ich kämpfe mit mir, wie so oft.
"Ich verspreche dir, dass ich es niemandem sagen werde."
"Es wissen eh alle Bescheid! Machen wir uns nichts vor!", fauche ich ihn an. Mit Wut versuche ich den Wunsch zu verdrängen, mich endlich jemandem anzuvertrauen.
"Wir haben Vermutungen", stimmt mir auch der Psychotherapeut zu. Kann er es nicht aussprechen?
"Dann sagen Sie es! Hanna wurde in der Schule fertig gemacht!" Schockiert fahre ich mir durch die Haare und schweige bestürzt. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Seit so vielen Jahren habe ich geschwiegen und nun ist es mir herausgerutscht. Meine Augen sind weit aufgerissen, mein Mund steht einen Spalt breit offen. Eine Träne löst sich aus meinem linken Augenwinkel. Ich traue mich nicht, sie wegzuwischen, sondern sitze nur regungslos da. Es ist die Sekunde des Schocks, die sich nach einer Katastrophe ausbreitet. Gleich wird die Welt in Chaos versinken.
"Fuck, ich muss weg!", flüstere ich dann panisch und will mich mühsam auf meine Krücken stützen.
"Hey, bleib hier", fordert mich Doktor Schäfer vorsichtig auf. "Es ist doch okay." Die Krücken fallen krachend auf den Boden.
"Nein!" Meine Stimme bricht, noch mehr Tränen tropfen auf meinen gelähmten Körper. Nie wieder wollte ich vor ihnen weinen, aber ich stehe gerade meinen Gefühlen machtlos entgegen. Sie wirbeln mein Inneres herum wie in einem schweren Sturm. Kurz bin ich erleichtert, dass ich endlich mein Schweigen gebrochen habe, dann aber überwiegt die Angst vor weiteren Antworten, die ich liefern werden muss.
"Es ist doch okay", wiederholt er und steht auf. Augenscheinlich will er mich in den Arm nehmen und mir Trost spenden.
"Fassen Sie mich nicht an!" Meine Stimme zittert, aber dennoch ist diese Forderung klar. Ich will das alleine durchstehen.
"Du musst nicht immer stark sein." Seine Stimme klingt ruhig. Er will mich beruhigen und geht noch einen Schritt nach vorne. Als ob ich gerade auch nur im Entferntesten stark wäre.
"Fassen Sie mich nicht an!", wiederhole ich mit zitternder Stimme und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Es hilft nicht, sie werden direkt durch neue ersetzt.
Immerhin geht er wieder zurück und setzt sich auf seinen Stuhl.
"Sind Sie zufrieden?", will ich wütend von ihm wissen.
"Erzähl mir davon", bittet er mich ruhig. "Mir ist klar, dass es weh tut, aber es ist so ein großer Schritt, dass du endlich die Wahrheit sagst."
"Es war Ihnen klar!" Am Liebsten würde ich dem Mann gegenüber von mir eine rein hauen. Er hat nicht das Recht, mich in dieser Situation dafür zu loben, dass ich Schwäche gezeigt habe.
"Ja", gibt er zu. "Aber es ist gut, dass du es selbst gesagt hast."
"Halten Sie den Mund!", fahre ich ihn wütend an und wische mir erneut die Tränen aus den Augen. "Sie haben keine Ahnung von irgendwas!"
"Dann hilf mir."
"Einen Scheiß werde ich!" Meine Stimme überschlägt sich vor Verzweiflung und wirkt absurd konträr zu der beruhigenden Stimme des Psychologens. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und presse meine Lippen fest aufeinander.
"In Ordnung. Dann beruhigst du dich und mischst dich unter Leute. Ich will dich heute nicht alleine sehen, verstanden? Wir reden darüber, aber darauf müssen wir uns beide vorbereiten. Bitte schreib dir auf, was das, was in der Schule passiert ist, mit dir gemacht hat."
"Ok." Mehr kann ich gerade nicht sagen.
"Es ist in Ordnung. Es ist alles in Ordnung."
Er wiederholt diese Worte noch ein paar Mal beruhigend und schließlich erlange ich meine Fassung wieder.
"Kommst du klar?"
Ich nicke.

20.10.2016, 1551 Wörter

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