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Am Liebsten würde ich auf den Boden sinken und einfach dort liegen bleiben, aber mein Selbsterhaltungstrieb zwingt mich dazu, im Rollstuhl sitzen zu bleiben und ein restliches Bisschen Haltung zu bewahren. Dort schaffe ich es auch endlich, mich zu beruhigen und die Gefühle aus meinem verheulten Gesicht zu verbannen.
"Ich will nicht darüber reden", sage ich mit belegter Stimme. "Es ist ewig her."
"Wie lange?", fragt Doktor Schäfer interessiert nach.
"Ich weiß es nicht", gebe ich verwirrt zu, nachdem ich etwas darüber nachgedacht habe. Warum weiß ich das nicht? "Ich weiß nicht mal, ob ich noch laufen konnte, oder nicht."
"Solche Erinnerungslücken können bei Traumata vorkommen und sind vollkommen normal." Wer hat ihn gerade nach seiner Meinung gefragt? Es ist mir vollkommen egal, ob mein Verhalten der Norm von traumatisierten Losern entspricht oder nicht. Das scheint ihm auch klar zu werden, weswegen er mich entschuldigend anschaut. "Wärst du bereit, dich auf die Therapie einzulassen?", fragt er dann, um keine unangenehme Stille aufkommen zu lassen.
Zögerlich nicke ich und bereue es sofort. Ich möchte nicht darüber reden, was passiert ist. Es ist das Privateste und Schrecklichste, was mir je passiert ist und ich würde mich eigentlich lieber verprügeln lassen als ein Wort darüber zu verlieren.
"Wir stehen das zusammen durch, Hanna", verspricht nun Doktor Schäfer leise. Dann geht er paar Schritte auf mich zu und schaut mir aufgeschlossen und beruhigend in die Augen. 
"Was haben Sie geplant?", frage ich, um endlich auch etwas sagen zu können und nicht mehr seine gut gemeinten Worte ertragen zu müssen. "Sie müssen doch sicher schon froh sein, endlich was gegen mich in der Hand zu haben." Ich lache versuchsweise. Es fühlt sich so falsch an, dass ich es sofort wieder lasse.
"Es geht nicht darum, etwas gegen dich in der Hand zu haben", widerspricht er mir natürlich. "Es geht darum, dass wir dir helfen wollen." Er wartet darauf, dass ich antworte, aber ich weiß nicht, was ich auf seine Aussage erwidern soll. Etwas irritiert redet er dann aber weiter: "Aber ich werde einfach mit dir reden und daraus ergibt sich alles Weitere. Zuerst solltest du aber wissen, dass du mir vertrauen kannst und dass ich dich für nichts verurteilen werde, was du hier sagst. Du kannst mir wirklich alles sagen!"
"Ich will Ihnen das alles gar nicht sagen", flüstere ich, um nicht vor Scham rot werden zu müssen. Mit solchen Sätzen kann ich überhaupt nicht umgehen. Mir fällt es aus irgendeinem Grund leichter, angeschrien zu werden.
"Du musst dir da gar keinen Stress machen, in Ordnung? Es ist schwer, das verstehe ich, aber es ist nötig, um dich behandeln zu können." Ich möchte ihm aus Reflex widersprechen und sagen, dass ich diese Hilfe nicht brauche, aber dann müsste ich lügen. Ich brauche diese Hilfe, ich will nicht immer über den Tod nachdenken und über das Essen und über mein autoaggressives Verhalten. Es soll endlich vorbei sein. "Okay", sage ich deswegen und flüstere. "Es war in der Schule." Sofort beginne ich wieder zu weinen. Es tut so weh, darüber zu reden. Jedes einzelne Wort darüber, ja sogar jeder Gedanke in diese Richtung, fühlt sich wie ein Messer, das sich blitzschnell in mein Herz bohrt und darin herumrührt. 
"In der Schule also. Es ist ein Anfang, gut gemacht."
"Es tat so weh", schniefe ich und presse meine Hand gegen meinen Brustkorb, der langsam zu zerbersten droht. "Es waren... es waren so viele Leute dabei... Es tat so weh."
"Meinst du das körperlich oder seelisch?", fragt Doktor Schäfer leise. Alles in diesem Raum scheint ruhiger geworden zu sein: Doktor Schäfers Stimme ist gedämpft und selbst die Geräusche von außen scheinen verstummt zu sein. Nur in mir drin brüllt alles vor Schmerzen. Meine Gefühle scheinen viel lauter zu sein als normalerweise. Ich erinnere mich an meine Gefühle, als er mich angefasst hat und erschaudere. Es ist nicht mehr möglich für mich, ein Wort zu sagen, da der Schmerz in meiner Brust unerträglich wird. Innerlich flehe ich um Medikamente, die diesen Schmerz betäuben können.
"Es soll aufhören", flüstere ich abgehackt, ohne wirklich mitzubekommen, dass ich diese Worte laut ausspreche. Das Blut rauscht so laut in meinen Ohren, dass ich nicht höre, was Doktor Schäfer sagt. Erst nach einer geraumen Zeit klingt der Schmerz etwas ab und ich löse meine Hände von meinem Herzen.
"Es... es tut mir leid", flüstere ich leise und fühle mich wie ein kleines Kind, das weint, weil es ein Glas auf den Boden geworfen hat. Ich wünschte, ich wäre wieder dieses kleine Kind, das wegen so etwas weinen kann. Ich wünschte, Ärger von meinen Eltern zu bekommen, wäre mein größtes Problem.

"Atme tief durch."
"Ich schaffe das nicht, Doktor Schäfer!", flüstere ich und wische mir über die Augen. "Ich schaffe das einfach nicht! Es tut so weh!" Wie ist es möglich, dass sich seelische Qualen derart körperlich anfühlen? 
"Wir haben alle Zeit der Welt, du darfst dich deswegen nicht verrückt machen. Würde es dir leichter fallen, das alles aufzuschreiben, anstatt es mir zu erzählen?"
Ich nicke überzeugt. Es wird so viel leichter sein, das alles aufzuschreiben. In diesem Fall müsste ich nicht auf die Reaktion von Doktor Schäfer achten und sie entsprechend und wahrscheinlich falsch interpretieren. Manchen fällt das Jonglieren von Wörtern leicht. Mir hingegen fehlte schon immer ein Zugang dazu.
"Im Moment kann ich es leider nicht verantworten, dass du das aufschreibst, während du alleine in deinem Zimmer sitzt. Das wäre leichter für dich, das ist mir klar, aber die Gefahr wäre zu hoch." Er überlegt für einen Moment. Hoffentlich ist ihm klar, dass er mich nicht im Gemeinschaftsraum dazu zwingen kann, meine Geschichte aufzuschreiben. Innerlich flehe ich ihn an, dass nicht das sein Vorschlag ist. "Ich kann dir den kameraüberwachten Raum anbieten. Dann bist du ungestört, aber wir können sicher stellen, dass du das überlebst." Erleichtert nicke ich und atme tief durch. Es funktioniert, die Tränen bleiben erst mal da, wo sie sind.
"Bist du damit einverstanden, Hanna?", will Doktor Schäfer immer noch leise von mir wissen. Er hat die ganze Zeit mit beruhigender Stimme geredet und sie kein einziges Mal erhoben, sodass sie normal geklungen hätte.
"Ja", antworte ich knapp mit belegter Stimme. "Das wäre gut."

06.11.2016, 1004 Wörter

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