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"Ich bring dich in das Zimmer", sagt nun Doktor Schäfer und nimmt die Griffe des Rollstuhls. Lassen Sie mich einfach aufgeben! Ich will doch einfach nur noch aufgeben können! Immer muss ich metaphorisch wieder aufstehen auf weiter machen, immer muss ich weiterkämpfen. Ich will nicht mehr weiterkämpfen!
"Ok", antworte ich und lasse zu, dass er mich in das Zimmer bringt.
"Schlaf gut", wünscht er mir mit einem besorgten Lächeln. "Wenn du wieder wach bist, dann reden wir weiter. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut."
Ich habe nicht mehr genug Kraft, um ihm zu widersprechen. Stattdessen will ich einfach nur noch vergessen, was passiert ist.
"Beruhig dich, wir schaffen das schon zusammen. Wir alle sind für dich da." Er kontrolliert die Kameras und fragt mich dann, ob ich alleine in das Bett komme. Ich nicke kraftlos, brauche dann aber trotzdem Hilfe, weil ich einfach nicht mehr über die nötige Energie verfüge.
"Gute Nacht. Trockne dir bitte die Tränen. Es ist schon in Ordnung", wünscht er mir noch und geht dann aus der Tür raus. Ich schließe meinen brennenden Augen und schlafe fast augenblicklich ein. Panikattacken sind so unglaublich ermüdend.

Als ich aus unruhigem, aber glücklicherweise traumlosen Schlaf, wach werde, öffne ich nicht direkt meine Augen. Ist das alles wirklich passiert? Wurde ich wirklich vergewaltigt? Habe ich wirklich aus Versehen während eines Zusammenbruchs verraten, dass ich in der Schule vergewaltigt wurde? Wissen es jetzt alle?
Als ich schließlich das Gefühl habe, diese Unwissenheit nicht mehr auszuhalten und doch die Augen öffne, befinde ich mich tatsächlich in dem kameraüberwachten Raum. Dadurch, dass ich hier schon mehrere Mal beobachtet werden musste, erkenne ich ihn, sobald ich ihn sehe. Nie wieder werden mir die hellgelben Wände aus dem Kopf gehen, die ich für alle Zeiten mit dem unbehaglichen Gefühl totaler Überwachung und entsprechender Entblößung assoziieren werde. Die einige Möblierung dieses Raums ist das Bett, in das ich vor ein paar Stunden halb tot gefallen bin.
Meine Hand wandert zu dem Lichtschalter und findet ihn schließlich. Mit Unterstützung des künstlichen Lichts kann ich meinen Rollstuhl schließlich ausmachen. Er steht ungefähr drei Meter von mir entfernt, die Krücken sind leider nicht auffindbar. Kann ich es ohne sie schaffen? Drei Meter sind eigentlich nicht viel, aber ich schaffe normalerweise keine zwei Schritte ohne die Krücken.
Mit einer Beleidigung versuche ich mich zu motivieren: "Armseliger Krüppel!" Meine Stimme klingt seltsam heiser in dem einsamen Raum und erinnern mich schmerzlich an mein Verhalten gegenüber Doktor Schäfer. Unter Garantie wird noch ein Nachgespräch stattfinden, aber zuerst muss ich aus diesem Bett kommen.
Die Kameras werden meinen wahrscheinlichen Fall aufzeichnen und dann wird einer des Teams kommen und mir erneut aufhelfen. Also kann ich es ruhig riskieren, auch wenn ich es nicht schaffen werden. Nun schiebe ich mit Hilfe meiner Arme meine Beine langsam über die Bettkante und balanciere für einen Moment sitzend auf dem Bett, bevor ich mich hochstemme. Jetzt versuche ich freihändig in Richtung des Rollstuhls zu laufen, da mir mangels Alternative nichts anderes übrig bleibt. Meine Beine können mein Körpergewicht von Anfang an nicht tragen und ich breche schon nach dem ersten Schritt zusammen. Unsanft lande ich auf den Boden und verfehle mit meinem Kopf knapp die Bettkante. "So eine Scheiße!", fluche ich mal wieder und prüfe mich auf irgendwelche Schmerzen oder gebrochenen Knochen, die ich nicht unbedingt spüren kann. Glücklicherweise haben ich keine Schmerzen und wahrscheinlich auch keine gebrochenen Knochen. Kurz atme ich erleichtert auf, bevor auch schon ein Pfleger zu mir reingestürmt kommt und mich schockiert fragt, ob mit mir alles in Ordnung sei.

"Klar, würden Sie mir helfen?", antworte ich gespielt genervt, während ich erneut kurz vor den Tränen bin. Nun schaffe ich es aber, meine Tränen herunterzuschlucken. Nie wieder möchte ich in dem Beisein eines Mitarbeiters der Psychiatrie anfangen zu weinen. Nie wieder!
"Natürlich", antwortet der Pfleger und hilft mir gekonnt in den Rollstuhl. Schon mehr als einmal habe ich mich gefragt, warum die ganzen Menschen hier so gekonnt mit mir umgehen. Im Moment bin ich die einzige, die behindert ist. Alle anderen brauchen normalerweise keine Hilfe bei den normalen Aufgaben des Alltags. "Danke", sage ich beschämt und schaue bewusst nicht in Richtung seiner Augen. In Momenten der Schwäche ertrage ich es nicht, Mitgefühl oder Mitleid in den Augen anderer Menschen zu sehen.
"Doktor Schäfer hat mir Anweisungen gegen, dass ich dich sofort zu ihm bringen soll, wenn du aufwachst." Glücklicherweise durchbricht der Pfleger die unangenehme Stille, die er wahrscheinlich gar nicht als solche aufgefasst hat. Ich nicke, keinesfalls überrascht. Gespräche nach meinen Zusammenbrüchen hatte ich schon öfter, aber nie hatten die Psychologen Derartiges gegen mich in der Hand. Sie müssen fast erleichtert sein, dass sie endlich einen Anhaltspunkt haben. Etwas, worüber sie mit mir reden können.

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