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Mein Blick wandert zu dem Psychologen, der gerade unser Gespräch belauscht hat. Mit Entsetzen und wahrscheinlich kugelrunden Augen schaue ich ihm ins Gesicht. Er blickt mich direkt und offen an und versteckt nicht, dass er über diese neue Information ziemlich überrascht ist. "Hanna, bei wem hast du jetzt Therapie?"
"Doktor Schäfer", antworte ich überrascht. Was hat er vor?
"Johannes, du hast jetzt bei mir, oder?" Bewusst schaue ich nicht in Johannes Richtung. Wie ich ihn kenne, wird er denken, dass ich ihn provoziert hätte und es meine Schuld ist, dass er sich nun verraten hat. Ich will gar nicht wissen, was er mir in Zukunft deswegen antun wird. "Würdest du schon in den Raum gehen? Ich komme gleich nach, wir sollten das besprechen." Auch wenn seine Stimme etwas aufgewühlter als sonst klingt, scheint er doch einen Plan zu haben, was er tut. Vielleicht schaffe ich es auch deswegen, jetzt nicht vollkommen meine Nerven zu verlieren.
Nachdem Johannes weggegangen ist, hilft Doktor Tibos mir unbeholfen vom Boden auf einen Holzstuhl, der glücklicherweise nur einen Meter entfernt vor einem Therapieraum steht. Auch er war schon zweimal anwesend, als ich zusammengebrochen bin und weiß deswegen, wie er mir helfen kann. "Wo ist dein Rollstuhl, Hanna?" Ich atme schwer und bin so verschwitzt, als ob ich einen Halbmarathon gelaufen wäre. Dabei stand ich nur zwei Minuten.
"Ich schaffe das!", protestiere ich bockig, auch wenn ich keine Kraft mehr hab. "Bitte lassen Sie es mich probieren!" In Wahrheit kann ich es nicht ertragen, vor anderen Menschen in meinem Rollstuhl zu sitzen. Mit Krücken bin ich zwar sehr viel unselbstständiger und langsamer als mit Rollstuhl, aber ich fühle mich besser, wenn ich nicht nur meine Arme zum fortbewegen gebrauche.
"Du zitterst vor Anstrengung", wendet Doktor Tibos ein. "Es ist doch okay, dass du es gerade nicht schaffst."
"Ich schaffe das!", widerspreche ich energisch, auch wenn ich tatsächlich bereits vor Anstrengung zittere und dementsprechend unglaubwürdig wirke.
"Wo ist dein Rollstuhl, Hanna?"
"In meinem Zimmer", verrate ich, nachdem ich überlegt habe. Er wird nicht nachgeben und je länger ich das Gespräch herauszögern werde, desto eher hat sich Johannes wahrscheinlich eine Ausrede einfallen lassen.
"Ich komme gleich wieder, ok? Ich suche nur schnell Niklas. Bleibst du so lange hier?" Ich nicke. Was sollte mir auch sonst übrig bleiben? Tatsächlich verfüge ich nicht die nötige Kraft, um jetzt große Strecken bewältigen zu können. Außerdem wüsste ich nicht, wohin ich jetzt gehen sollte. 

Tatsächlich kommen die beiden schon ein paar Momente später zurück, Doktor Tibos schiebt meinen Rollstuhl vor sich her. "Alles in Ordnung?", fragt Doktor Schäfer in meine Richtung. Ich nicke. "Mir geht's gut."
"Kommst du dann mit? Wir sollten darüber reden." Erneut nicke ich. Mir geht's gut. Als ich versuche, in den Rollstuhl zu kommen, wird mir klar, dass ich es mit den Krücken auf gar keinen Fall auch nur zwei weitere Schritte geschafft hätte. Es fällt mir schon fast abnormal schwer, mich in den Rollstuhl zu setzen, wie hätte ich dann laufen können? Als ich es schließlich schaffe und den wertenden Blick der beiden Psychologen ignoriere, folge ich Doktor Schäfer in seinen Therapieraum, während Doktor Tibos zu Johannes geht. Kurz bin ich erleichtert, jetzt nicht mit allen Dreien darüber reden zu müssen, aber dann denke ich über meine aktuelle Situation nach. Genau genommen wissen beide noch nicht, dass ich von Johannes vergewaltigt wurde. Wortwörtlich hat er gesagt: "Du wolltest den Sex doch auch!" Natürlich ist es keine große Kunst, diese Aussage meinem Zusammenbruch zuzuorden, aber wortwörtlich hat er es noch nicht zugegeben.
"Wird das so was wie ein Verhör?", frage ich, nachdem Doktor Schäfer die Tür geschlossen und sich auf seinen Stuhl gesetzt hat. Ich verzichte ausnahmsweise darauf, mich auf den Stuhl zu setzen, weil ich fürchte, dass meine Muskelkraft das nicht mitmachen würde.
Doktor Schäfer antwortet ohne zu Überlegen. Seine Stimme klingt klar und deutlich, er betont jedes einzelne Wort. "Nein, aber es ist wichtig. Hat Johannes dich vergewaltigt?" Es war klar, dass es die erste Frage ist die er stellt und trotzdem trifft sie mich unvorbereitet. Auf solche Fragen kann man sich nicht vorbereiten. Was soll ich nun darauf antworten?
"Was würde das für einen Unterschied machen?", frage ich, um etwas Zeit schinden zu können.
"Bitte beantworte mir einfach die Frage, in Ordnung?" Noch bevor ich ein Wort gesagt habe, fange ich wieder an zu zittern. Diese Antwort wird jetzt entscheidend für den weiteren Fortgang dieser Behandlung sein, das weiß ich. Natürlich könnte ich sagen, dass der Sex einvernehmlich war, aber das wäre schon wieder ein Lüge. Vielleicht sollte ich petzen, Johannes sollte dafür gerade stehen, was er mir angetan hat. Es ist eigentlich falsch, dass er ohne Strafe davon kommt.
"Ja", antworte ich auf seine vorige Frage und breche in Tränen aus. Eigentlich hatte ich noch gar nicht bewusst entschieden, ob ich die Frage wahrheitsgetreu beantworten sollte oder nicht. Mein Unterbewusstsein hat aber offensichtlich für mich entschieden und jetzt habe ich es gesagt. Für mich gibt es in diesem Moment keinen Trost. Nun ist das Schlimmste gesagt, was ich hätte sagen können. Gibt es etwas Schlimmeres, als vergewaltigt worden zu sein?
"Es ist doch in Ordnung", flüster Doktor Schäfer. Er wirkt nicht sonderlich überrascht. Ich war noch nie so undurchschaubar wie ich es gerne wäre und ich habe so viel Angst vor Johannes, dass Doktor Schäfer es wahrscheinlich zumindest als Möglichkeit in Betracht gezogen hat, von ihm vergewaltigt worden zu sein.
Ich bin nicht in der Lage, etwas darauf zu erwidern, da sich mein Herz so anfühlt, als ob es auf brutale Weise in zwei Hälften gerissen würde. Die zwei gesprochenen Buchstaben taten so weh, als ob sie mir jemand mit einem Messer in den Brustkorb geschnitten hätte.
"Ich bin für dich da. Es ist doch in Ordnung. Ich bin für dich da." Er redet weiter beruhigend auf mich ein und kommt langsam auf mich zu. Am liebsten würde ich ihn jetzt wieder anschreien, dass er mich nicht anfassen soll. Glücklicherweise möchte er mich nicht in den Arm nehmen. Stattdessen kniet er sich vor meinem Rollstuhl hin und guckt so zu mir auf. "Es ist in Ordnung. Es ist in Ordnung, Hanna", flüstert er und wiederholt immer wieder die paar Sätze, die mich aufmuntern sollen. Je beruhigender und leiser er redet, desto mehr wird mein Körper von Schluchzern erschüttert. Es ist nicht in Ordnung. Ich schüttle den Kopf und weine noch heftiger. Was soll mir in diesem Moment helfen? Was hilft einen, über den Schmerz einer Vergewaltigung wegzukommen? Ein paar Augenblicke verweilen wir in dieser bizarren Position, bevor es an der Tür klopft.
"Ist es in Ordnung, wenn ich aufmache?", fragt Doktor Schäfer vorsichtig. "Es ist wahrscheinlich Jannik. Wir wollten uns absprechen, wenn wir das mit euch weiter besprochen haben." Ich nicke, da ich gerade nichts sagen kann, aus Angst, mich sonst übergeben zu müssen.
Also steht Doktor Schäfer auf und löst seinen Blick von mir. Betont langsam geht er in Richtung Tür und macht diese dann auf. In ihr steht tatsächlich Doktor Tibos.
"Du Hanna, ich lasse die Tür auf, in Ordnung? Wir müssen das kurz draußen besprechen, aber wenn du nicht mehr kannst, dann komm bitte sofort zu mir. Kann ich mich darauf verlassen?" Ich nicke schweigend und immer noch wortlos, auch wenn ich auf gar keinem Fall zu ihm kommen werde. Schon oft hatte ich das Gefühl, es nicht mehr aushalten zu können, aber trotzdem habe ich es alleine geschafft. Auch diesen Teil werde ich alleine bewältigen können. Wäre ich gerade zu schwach dazu, könnte ich mir das nie im Leben verzeihen.

Nach einiger Zeit kommt Doktor Schäfer wieder. Ich habe keine Ahnung, wie lange er weg war, kann mir aber nicht vorstellen, dass er mich lange alleine gelassen hätte. Nachdem er sich seine Haare aus der Stirn gestrichen hat, mustert er mich lange. Ich weine immer noch, da ich bisher nicht die nötige Kraft dazu gefunden habe, mich beherrschen zu können. Nachdem sein Blick sich in meine Haut gefressen hat, verkündet er ruhig: "Wir werden dafür sorgen, dass du und Johannes keine Therapien mehr zusammen haben. Es wird alles gut, Hanna. Wir arbeiten das auf und du wirst mit dieser Erinnerung leben können, das verspreche ich dir."
Ich kann immer noch nichts sagen und fühle mich wie betäubt. Seine Worte erreichen mich, erzielen aber keine Wirkung. Gerade wird alles von meinem Geständnis überschatten. Ja, ich wurde von Johannes vergewaltigt.
"Aber wir müssen darüber reden und du musst mir vertrauen. Du kannst einen anderen Therapeuten wählen, wenn du das möchtest, aber du solltest das hier alles nicht totschweigen. Such dir jemanden aus, dem du vertraust, das ist das Wichtigste."
"Ich vertraue Ihnen", flüstere ich abgehackt. 

30.10.2016, 1411 Wörter
Das Kapitel widme ich an Manela049, da sie die meisten meiner Kapitel kommentiert und ich mich über Kommentare ziemlich freue.
Happy Halloween👻
_ThatGirl99_

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