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Die Zeit schreitet immer weiter fort, während ich immer weiter rede und ich mich immer schlechter fühle. Der Polizist ist unerbittlich. Zwar bietet er mir immer wieder eine Pause an und redet so vorsichtig, als müsste er mit seinen Worten eine Bombe entschärfen, aber dennoch fragt er mich unerbittlich nach jedem Detail: Wo Johannes Hände lagen, was er gesagt hat, wo er mich berührt hat und er fragt mich nach jedem, der anwesend war. Er will wissen, wie Johannes gerochen hat bittet mich zu genauen Wiedergabe davon, wie er mich vollkommen hilflos gemacht hat. Ich erzähle alles und beantworte selbst die Fragen nach dem Mobbing, die zwangsläufig auf meine Erzählung folgen. Vier oder fünf Mal kann ich alles nicht mehr aushalten und lasse mich zu einer Pause überreden. Zweimal muss ich Schmerztabletten zu mir nehmen, weil ich wirklich keine Kraft dazu habe, mich auch noch mit den Schmerzen meiner Nase zu beschäftigen.
Dann schließlich habe ich es geschafft. Der schlimmste Teil meines Lebens ist nun in diesem Aufnahmegerät gespeichert. "Wie geht es weiter?", frage ich, nachdem meine Tränen endlich versiegt sind und ich mich nur erschöpft fühle.
"Wir müssen das alles natürlich prüfen", antwortet der Polizist vorsichtig. Dann fügt er beschwichtigend hinzu: "Keine Sorge, das heißt nicht, dass wir dir nicht glauben, aber wir müssen es einfach." Ich nicke. Natürlich muss das geprüft werden. "Also, das heißt, dass wir deine Lehrer und deine Mitschüler befragen werden und dann wird die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob dieser Fall vor Gericht geht. Aber ich kann Ihnen eigentlich versichern, dass das der Fall sein wird, weil eine Vergewaltigung eine sehr schwere Anschuldigung ist."
"Muss ich das dann alles nochmal erzählen?" Meine Stimme klingt genauso erschöpft wie ich mich gerade fühle. Ich habe so lange geredet, dass ich nun ein bisschen heiser geworden bin und leichte Halsschmerzen verspüre, die mir aber erst jetzt bewusst werden. Warum habe ich da vorher nicht dran gedacht? Natürlich werde ich das wiederholen müssen, vor dem Jungen, der mir das angetan hat. Jeder wird da sein und dabei zusehen, wie ich versage, wie ich das Schlimmste erzählen muss, was mir jemals im Leben passiert ist. 
"Ja, das musst du. Aber das ist wirklich halb so wild." Inwiefern ist das denn "halb so wild"? Ich kann doch nicht vor so vielen Menschen diese Dinge wiederholen. Es geht einfach nicht. Obwohl mein Herz vor Angst schnell schlägt, nicke ich aufgesetzt tapfer und versuche mir innerlich Mut zu zusprechen. Jetzt habe ich mich schon hierzu überwunden und war mir für einen Moment sicher, dass ich das Richtige mache. Ich war sogar ein bisschen stolz, dass ich mein Schweigen durchbrechen konnte. Jetzt wird dieses Gefühl von der lebhaften Vorstellung verdrängt, dass ich das alles nochmal vor fremden Menschen beschreiben muss. Warum hört dieser Alptraum nicht endlich auf?
"Kopf hoch, Hanna. Das war heute sehr gut", lobt mich Doktor Tibos leise. Ich hatte seine Anwesenheit fast vergessen. Zwischenzeitig habe ich ihn während meiner Erzählung fragend angeschaut, um Bestätigung für das zu bekommen, was ich tue. Dann bin ich total in meiner Vergangenheit und in dem Schmerz versunken und habe vergessen, dass er mir die ganze Zeit beigestanden hat. Erst jetzt wird mir seine Anwesenheit wieder bewusst. Es kommt mir fast so vor, als würde ich aus aus einem Meer auftauchen und mich wieder in der Realität befinden.
"Danke", antworte ich mit leichtem Lächeln und schaue ihn das erste Mal seit einer Ewigkeit an. Der rothaarige Mann erwidert meinen Blick geknickt. Augenscheinlich macht er sich ziemliche Sorgen um mich. Es ist wahrscheinlich berechtigt. Das stundenlange Gespräch hat ganz schön an meiner spärlichen Kraft gezerrt und ich weiß gerade um ehrlich zu sein nicht, wie ich für alle weiteren Schritte noch mehr Kraft aufbringen soll. Trotzdem versuche ich ihm mit einem Lächeln mehr Optimismus zu spenden als ich es selbst empfinde. Doktor Tibos zieht seine Augenbrauen fragend hoch und ich nicke mit nun zusammengepressten Lippen.
"Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, dann kommen Sie einfach nochmal und dann nehmen wir das einfach noch mit auf. Sonst bekommen Sie einfach Post oder einen Anruf von uns." Ich löse meinen Blick vom Psychologen und wende mich dem Polizist zu, der nun anscheinend die Formalitäten herunterleiern muss. Er guckt jetzt wieder professionell und scheint nicht weiter geschockt von meiner Erzählung zu sein. 
"In Ordnung", stimme ich zu. Endlich ist das hier vorbei. Selbst die Psychiatrie erscheint mir jetzt als positive Zukunftsaussicht. 

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