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Die Türen der Psychiatrie sind nicht besonders hellhörig, aber meine Eltern schreien Doktor Schäfer immer wieder aufgebracht an, weswegen ich Fetzen ihres Gesprächs verstehen kann. Merkwürdigerweise geht es niemals darum, was mir in der Schule widerfahren ist. Sie fragen sie nur andauernd, warum ich ihnen nichts gesagt habe und betonen, dass sie immer für mich da waren. Doktor Schäfers Antworten darauf kann ich nicht verstehen, da er deutlich leiser redet als meine aufgebrachten Eltern. Eigentlich sollte es mir Recht sein, aber irgendwie kommt mir das etwas egoistisch vor. Sie haben mich nicht gefragt, was passiert ist, es geht ihnen nur darum, dass sie gute Eltern sind.
Meine Gedanken schweifen immer wieder zu dem eben passierten Gespräch ab. Und jetzt sagst du uns das? Jetzt, wenn du schon so bist? Hat mein Vater das ernst gemeint oder war es nur dahin gesagt? Er hat immer so verständnisvoll getan, hat mir geholfen und hat versucht mit mir zu reden. Und jetzt sagt er so was zu mir? Wie bin ich denn seiner Meinung nach? Zu hässlich? Zu fett? Zu dumm? Was hat er damit gemeint?
Als Doktor Schäfer die Tür schließlich wieder öffnet, starre ich wütend auf einen Punkt links neben der Tür. "Bist du in Ordnung?", flüstert er und ich nicke. "Kommst du rein?", fragt er lauter. Ich nicke und rolle in den Raum rein, in den meine Eltern wie zwei Haufen Elend sitzen. "Guckt mich nicht so an!" Sofort nehme ich wieder meine Abwehrhaltung an und fahre dieses Mal neben Doktor Schäfer, um noch etwas mehr Distanz zu meinen Eltern wahren zu können. 
"Es tut mir leid, dass ich euch enttäuscht habe", flüstere ich dann, da ich es einfach sagen muss. "Ich wollte euch nicht enttäuschen, das müsst ihr mir glauben."
"Es wird alles wieder gut", antwortet meine Mutter traurig. "Aber wir brauchen erst mal Zeit. Sehen wir uns nächste Woche?" Ich nicke, erleichtert darüber, nicht weiter mit ihnen reden zu müssen.
Zum Abschied umarmen meine Eltern mich nicht, was mir nur Recht ist. Stattdessen gehen sie Händchen haltend aus diesem Gebäude raus. Sie spenden sich den Trost, den sie beide gerade brauchen und lassen mich erneut zurück. Es kann doch keiner behaupten, dass meine Eltern nie etwas geahnt haben. Sie haben so reagiert, als ob es eine vollkommene Überraschung für sie gewesen wäre, aber das war es nicht. Sie haben immer nur weggesehen, als mein Körper grün und blau geschlagen wurde. Zu hundert Prozent hat meine Mutter zumindest zwei Mal meinen geschundenen Körper gesehen, aber sie hat mich niemals darauf angesprochen. Ich war nicht die einzige, die zu feige dafür war, jemals das Mobbing zu äußern.
"Was denkst du?", fragt Doktor Schäfer mich. 
"Sie wussten es", gebe ich zu. Es gibt jetzt keinen Grund mehr, ihm solche banalen Dinge zu verschweigen. "Dafür hatte ich zu oft Verletzungen. Sie hatten kein Recht dazu, so auszurasten."
"Vielleicht haben sie es geahnt", stimmt mir nun auch Doktor Schäfer nachdenklich zu. "Sonst hätten sie nicht so darauf beharrt, dass sie nichts geahnt hätten. Aber sie wissen, dass sie falsch reagiert haben, wir haben das besprochen. Wie fühlst du dich bei der Sache?" Einen Moment brauche ich, um wirklich über meine Gefühle klar zu werden. 
"Ich glaube, ich bin erleichtert", sage ich verwirrt. Doktor Schäfer schaut einfach nur abwartend, weswegen ich weiterrede: "Sie können sich nicht vorstellen, was für ein schlechtes Gewissen ich die ganze Zeit hatte."
"Weil du gelogen hast?"
"Ja. Es tut mir so leid, dass ich Sie angelogen habe. Es tut mir wirklich sehr leid." Am Liebsten würde ich diese Entschuldigung immer und immer wieder wiederholen, bis mir irgendwann die Menschen verzeihen, denen ich damit Unrecht angetan habe.
"Du musst dich nicht entschuldigen", sagt Doktor Schäfer lächelnd.
Diese Worten verfehlen ihre beruhigende Wirkung auf mich komplett. Ich hasse es, hier für nichts verantwortlich gemacht zu werden. Es ist doch normal, dass man für die Dinge gerade stehen muss, die man verbrochen hat und ich möchte nicht der unzurechnungsfähige Psycho sein, der für nichts verantwortlich gemacht werden kann.
"Okay", antworte ich einfach und lächle mehr oder weniger glaubwürdig zurück.
"Ich glaube, das war heute genug für dich. Willst du noch über etwas reden?" Ich schüttle den Kopf. Es ist heute schon zu viel gesagt worden und ich muss das Gesprochene erstmal verarbeiten. 
"Es wird alles gut, in Ordnung?" Ihm scheint es wichtig zu sein, dass ich diesen Umstand glaube.
"Ja. Es wird alles gut", wiederhole ich, ohne es zu glauben. Warum sollte jetzt alles gut werden? Ich werde nur immer weiter reden müssen und am Ende wissen die Psychologen über mein ganzes Leben Bescheid und dann werde ich trotzdem irgendwann wieder zur Schule müssen.
"Wir sehen uns morgen, wenn heute nichts mehr ist."
"Bis morgen", stimme ich zu und fahre in mein Zimmer.

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