##017##

232 10 2
                                    

"In Ordnung", stimmt Doktor Schäfer erleichtert zu. Wahrscheinlich braucht er etwas Handfestes, mit dem er arbeiten kann. "Aber kannst du mir eine Sache versprechen?"
"Was?" Ich klinge viel misstrauischer, als es beabsichtigt war. Meinen hoffentlich entschuldigenden Blick nimmt er neutral und ohne sichtliche Reaktion entgegen. Wie schafft er es immer, seine Mimik so kontrolliert zu haben? Erst selten habe ich gesehen, was er wirklich fühlt. Wie geht das?
"Bitte übernimm dich nicht. Wir wissen beide, dass du deine Grenzen nicht immer erkennen kannst. Denkst du, du schaffst es dieses Mal?"
"Sie ja offensichtlich nicht, sonst würde ich alleine daran arbeiten können", antworte ich fast grinsend. Am Anfang hatte ich eine riesige Angst davor, etwas Falsches zu sagen und habe mir deswegen immer nur meinen Teil gedacht, anstatt ihn zu kommentieren. Mittlerweile fühle ich mich aber so sicher, dass ihn manchmal nicht sonderlich nachdenke, bevor ich anfange zu reden. Dann kommt so etwas raus. Es sollte die angespannte Stimmung etwas auflockern, was aber leider nicht funktioniert hat. So leicht lässt sich der Psychotherapeut nicht aus seinem Konzept bringen.
"Es ist nur zur Kontrolle. Aber glaubst du, du schaffst es?" Doktor Schäfer schaut mir eindringlich in die Augen. Aus irgendeinem Grund schaffe ich es nicht, meinen Blick von ihm zu lösen.
"Wir werden es sehen, oder?", antworte ich erstarrt. 
"Ja, das werden wir", muss nun auch Doktor Schäfer zustimmen. Ich schaffe es, meine Augen von ihm zu lösen und schaue stattdessen auf einen unbestimmten Punkt hinter ihm. Manchmal ist es leichter, nicht zu wissen, wie andere Menschen auf mich reagieren. "Fühlst du dich dazu in der Lage, jetzt anzufangen?" Ich nicke, obwohl ich nur noch schlafen möchte. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gerade Mal elf Uhr am Vormittag ist. Das mit dem Schlafen werde ich noch um einige Zeit verschieben müssen.
"Was hat Johannes gesagt?", will ich noch von ihm wissen, bevor ich mich mit mir selbst beschäftigen muss. Je länger ich es herauszögern kann, desto besser für mich. 
"Das kann ich dir leider nicht sagen", antwortet er mir. Ich schaue ihm in die Augen, um erkennen zu können, ob er mir vielleicht in seinem Gesicht die Wahrheit verrät. Seine Mimik bleibt allerdings absolut bewegungslos. In diesem Moment ärgere ich mich über diesen pflichtbewussten Psychologen. Auch wenn mir eigentlich klar ist, was Johannes gesagt hat, würde ich gerne eine Bestätigung für diese Vermutung bekommen. Warum muss er seine Schweigepflicht so ernst nehmen, dass er mir nicht mal das sagen kann? Es ist wichtig für mich!
"Würdest du dann mit mir kommen?", unterbricht er meine vorwurfsvollen Gedanken.
"Darf ich...?" Meine Stimme klingt so verheult, dass ich mich beschämt räuspere und dann einen neuen Anlauf wage: "Darf ich laufen?", frage ich dann kleinlaut.
"Du bist eben zusammengebrochen, oder?", fragt Doktor Schäfer. Eben? Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, dass der Zusammenbruch höchstens eine Stunde her ist. Es kommt mir so viel länger vor. In diesen sechszig Minuten ist viel mehr passiert als in dem kompletten letzen halben Jahr zusammen.
"Ja, aber ich kann das!", entgegne ich störrisch und vor allem erleichtert darüber, dass unser Gespräch von Johannes wegkommt. Über meine körperlichen Fähigkeiten habe ich schon so oft mit Doktor Schäfer diskutiert, dass es ein Stück Routine in dieser vollkommen neuen Situation ist.
"Keine Diskussion!", widerspricht er mir mit einer Stimme, die mich verstummen lässt. Damit wäre der angenehme Teil des Gesprächs beendet. "Darüber müssen wir auch nochmal reden, aber jetzt komm erstmal mit." Niedergeschlagen folge ich dem Psychotherapeuten nach draußen auf den Flur und in einen trostlosen Raum mit einem einsamen Schreibtisch. Während des Wegs senke ich meinen Blick beschämt auf den Boden. Es darf niemand sehen, wie sehr mitgenommen ich bin. Diese Schwäche macht mit verletzlich und Verletzlichkeit kann man sich nicht leisten, wenn man im Rollstuhl sitzt. In dem Raum, in den mich Doktor Schäfer begleitet, war ich noch nie. Es ist mir noch nie aufgefallen, dass ein kameraüberwachter Raum mit einem einsamen braunen Schreibtisch existiert. Bisher dachte ich immer, diese Big-Brother Räume seien immer nur für die Nacht zum Schlafen da. Auf dem Schreibtisch liegt ein karierter Collegeblog und ein dunkelroter Kugelschreiber bereit. Es scheint fast so, als würden sie hier schon längere Zeit auf ihren Einsatz warten. "Soll ich dabeibleiben?", fragt Doktor Schäfer. "Oder soll ich dich alleine lassen?" Mein Blick löst sich von den Schreibutensilien und wendet sich dem besorgt aussehenden Mann zu.
"Würden Sie vielleicht gehen? Bitte?", bitte ich ihn auf einmal schüchtern, da ich es hasse, Menschen um etwas bitten zu müssen. Aber ich könnte es in diesem Moment nicht ertragen, ihn dabei zu haben. "Ja natürlich", antwortet Doktor Schäfer aber glücklicherweise sofort. "Ich hole dich in einer Stunde ab, in Ordnung?"
"Ja." Meine Stimme klingt furchtbar. "Bis dann", setze ich noch nach einem Räuspern hinterher, aber es verändert sich nichts. Halb erwarte ich, dass er mich nochmal fragt, ob ich das wirklich packe. Er geht allerdings ohne ein Wort zu sagen aus dem Raum und lässt mich mit meinen Gedankenalleine. Eigentlich macht es keinen Unterschied, ich hätte auch dieses Mal gesagt, dass ich das schaffe. Betont langsam fahre ich an den Schreibtischstuhl und hieve meinen unförmigen Körper von meinem Rollstuhl in diesen. Das fällt mir viel schwerer als sonst, meine Kraft scheint sich tatsächlich nicht so schnell zu regenerieren, wie ich gehofft hatte.
Als ich im normalen Stuhl sitze, nehme ich den Stift in meine Hand. Sie zittert derart stark, dass jeder Versuch von lesbaren Buchstaben nahezu unmöglich zu sein scheint. Meine Augen suchen die Kameras und finden zwei. Ich fühle mich wie in einem Horrorfilm und erschaudere, aber dann versuche ich deren Existenz auszublenden. Das gelingt mir während der nächsten Stunde erstaunlich gut. Ich vergesse um ehrlich zu sein komplett, wo ich mich befinde. Die Psychiatrie, ja selbst mein Rollstuhl und mein gelähmter Körper werden von meiner Vergangenheit verdrängt. Kaum lasse ich die Gedanken über die Vergewaltigung zu, überrollen mich Emotionen, die ich in dieser Art noch nie gefühlt habe. Sie sind nicht einmal mit denen vergleichbar, die ich empfunden habe, als ich das erste Mal im Rollstuhl saß. Jede einzelne Faser meines Körpers tut so weh, als würde er sich langsam in einer ätzenden Säure auflösen. Es tut so weh!
Kaum eine Sekunde habe ich das Gefühl, das alles so erfassen zu können, wie es wirklich war. Es ist einfach nicht möglich für mich, die Realität in ihrer Wahrheit zu erfassen.

Nach einer Stunde holt Doktor Schäfer mich wieder ab. Er findet mich am ganzen Körper zitternd und in Tränen aufgelöst vor und schließt mich ohne Vorwarnung in seine Arme. Für einen kurzen Moment spüre ich seine Körperwärme auf meiner Haut und ich fühle mich beruhigt, bevor mir die Kälte dieses Raums erneut bewusst wird und mich bodenlose Panik zu überwältigen droht.
"Lassen Sie das!", wimmere ich überzeugt und schüttle ihn von mir ab. In diesem Moment ist mir nichts mehr zuwider als Körperkontakt. Wahrscheinlich versteht er mittlerweile auch, warum das so ist. "Fassen Sie mich nicht an!" Meine Stimme überschlägt sich vor Panik. Ich kenne ihn nicht, warum umarmt er mich?
"Es tut mir leid", entschuldigt sich Doktor Schäfer und verschränkt seine Finger ineinander. "Ich dachte nur, du könntest meine Unterstützung gebrauchen."
"Nein!", entgegne ich. "Fassen Sie mich nie wieder an!"
Er nickt traurig und schaut mich besorgt an. "Wie lief es?", fragt er mich dann, anscheinend will er das Thema wechseln. 
"Jetzt tun Sie nicht so, als ob Sie mich nicht die ganze Zeit beobachtet hätten!", fauche ich und trockne meine Tränen. Diese Stunde, so lange sie auch gedauert hat, ist nun endlich vorbei und ich kann meine Erinnerungen wieder verdrängen.
Wenn Doktor Schäfer schon verständnisvoll und interessiert sein will, dann soll er mir wenigstens die Wahrheit sagen. Natürlich hat er mich keine Sekunde aus den Augen gelassen. "Wars witzig, das mit anzusehen?", setze ich hinterher, um nicht noch sentimentaler zu werden. Ich möchte lieber wütend auf ihn sein als seine Anteilnahme zu begreifen und zu verinnerlichen. Natürlich weiß ich, dass ich nicht das Recht dazu habe, aber Wut fällt mir so viel leichter und macht mich nicht so verletzlich.
"Nein, das war es nicht", antwortet er ernst und schaut mir offen in die Augen. Schweigend erwidere ich seinen Blick kurz.
"Hör mir zu, Hanna: Es tut mir leid, dass ich dir so weh tun muss, aber es ist nötig, damit es dir wieder besser gehen kann."
"Ja", antworte ich dumpf. Seine Entschuldigung ist absolut unnötig. Er hat das alles hier nicht zu verantworten. "Ich weiß. Kein Problem." Zwischen diesen einzelnen Teilen schweige ich einige Moment zu lange, immer in der Hoffnung, dass Doktor Schäfer anfängt zu reden. Es wäre mir lieber, wenn er statt mir redet, aber das tut er nicht. Erst als ich etwas länger schweige, merkt er, dass ich nicht fortfahren werde.
"Willst du mit mir jetzt darüber reden, oder willst du das auf später verschieben?" Warum stellt er mir diese Frage überhaupt? Wer will freiwillig darüber reden, dass so etwas passiert ist?
"Verschieben", antworte ich also ohne Nachzudenken. Erleichterung erfasst mich kurz. Fürs Erste habe ich es geschafft.
"Dann würde ich sagen, dass du dich bis zum Mittagessen entspannst. Soll ich dich zu deinem Zimmer begleiten? Dann musst du Johannes nicht begegnen."
"Danke", flüstere ich fast lautlos. In dieser Gefühlslage könnte ich es nicht ertragen, Johannes zu begegnen. Wenn ich mir sein Gesicht vor meinem inneren Auge vorstelle, spüre ich eine Welle der Angst und des eiskalten Hasses in mir aufsteigen. Dieser Hass sollte niemals an die Oberfläche treten, zu viel hat er in meinem Leben schon zerstört.
Glücklicherweise kommt er uns auf keinem der Gänge entgegen. Die paar Menschen, die mich in der Verfassung sehen, in der ich gerade bin, schauen mich irritiert an, trauen sich aber zum Glück nicht, mir direkt in die Augen zu sehen oder mich anzusprechen. 
In meinem Zimmer sitzt Carina missmutig auf ihrem Bett. Ihre langen blonden Haare sind zu einem unordentlichen Zopf geflochten, ihre grünen Augen schauen mich traurig an. "Was ist mir dir passiert?", fragt sie, als ich die Tür hinter mir zu mache. Ich fühle mich innerlich betäubt und will nicht mit ihr über mein Leben reden. "Nichts", antworte ich müde und lege mich erledigt in mein Bett. Dort schlafe ich fast augenblicklich ein. Das alles hat mich so erschöpft.

11.11.2016, 1680 Wörter

Cannot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt