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In meinem Zimmer fällt mein Blick aus irgendeinem Grund auf das Notizbuch, das mir mehr oder weniger als Alibi-Tagebuch dient. Das erste Mal in meinem Leben habe ich das Bedürfnis, die Wahrheit und meine richtigen Gefühle in dieses Buch zu schreiben. Wenn ich schon niemandem die Wahrheit sagen kann, dann kann ich zumindest versuchen, durch Schreiben meine Gedanken zu ordnen. Warum nicht? Diese Seite kann ich ja nachher rausreißen und in der Toilette versenken. Dann wird es niemand merken. 
Also schnappe ich mir meinen Füller und kaue kurz auf seinem Ende herum. Wie soll ich anfangen?

Ok... scheiße. Johannes ist hier. Der Johannes, der mich vergewaltigt hat. Der Johannes, der zugesehen hat, als sie mich das Fenster herunter gestoßen haben. Der Johannes ist jetzt in der Klapse. Er wird mir hier das Leben zur Hölle machen. Am Liebsten würde ich einfach aufgeben. 

Es ist die Wahrheit. Ich blicke meine hingekritzelten Worte an und erkenne, dass es die Wahrheit ist, was ich gerade geschrieben habe. Traurig schaue ich auf das Papier und setze dann wieder den Stift an.

Es ist nicht so schwer wie es klingt. Ich könnte einfach eine Fensterscheibe einschlagen und mir eine Scherbe in den Arm rammen. Schluss, Aus, Ende. Jetzt. 
Johannes kann ruhig gewinnen. Es ist mittlerweile so weit, dass mir selbst diese Stolzfrage egal ist. Selbstachtung ist wahrscheinlich nur etwas, was man hat, wenn man kein Krüppel ist, der schon mal zum Sex gezwungen wurde... Ich wünschte, ich hätte dieses Flashback nie gehabt. Ich wünschte, das alles wäre nie passiert! Warum wollten meine Eltern bloß nach Patrick noch ein Kind haben? Warum mussten sie mich bekommen? Warum??
Ok fuck. Genug des Selbstmitleids. 
Einfach durchhalten.
Hanna

Das vollgeschriebene Papier landet in der Toilette. Für immer zerstört, sodass niemand meine Gedanken lesen kann. 
Einfach durchhalten. Das tue ich jetzt. Ich halte durch und mache gute Miene zum bösen Spiel. Kein Selbstmitleid mehr. Es ist schwach und Schwäche kann ich mir nun hier nicht mehr leisten. Nicht vor jemandem aus meiner Klasse. Nicht vor Johannes.

Eine Weile hänge ich meinen düsteren Gedanken noch nach, bevor es an die Tür klopft. Mein Herz macht einen schmerzhaften Satz. Ist das Johannes? Will er mich umbringen? Vergewaltigen? Misshandeln?
Innerlich weise ich mich dazu an, jetzt nicht die Nerven zu verlieren. Es wird bestimmt nicht Johannes sein. Woher sollte er wissen, wo mein Zimmer ist?
"Ja?", frage ich, ohne ein Zittern in meiner Stimme unterdrücken zu können. "Hanna? Kann ich reinkommen?", fragt zum Glück eine Stimme, die ich eindeutig Doktor Schäfer zuordnen kann. Erleichtert lasse ich die Luft aus meinem Körper entweichen, die ich unbewusst angehalten habe. Es ist nicht Johannes, also droht keine Gefahr.
"Natürlich", antworte ich und beobachte, wie die Tür aufgeht. 
"Sag mal, ist alles in Ordnung bei dir?", fragt der schwarzhaarige Mann, nachdem er die Tür wieder geschlossen und sich auf einen Stuhl gesetzt hat. Sein Blick liegt besorgt auf mir und ich fühle mich entblößt. Er weiß von Johannes und kann sich wahrscheinlich zusammenreimen, welche Art von Rolle er in meinem Leben gespielt hat.
"Doktor Tibos hat gepetzt?" Warum sollte er sonst zu mir kommen und mich außerhalb des Termins nach meinem Befinden fragen?
"Ja. Also, was ist mit diesem Johannes?"
Er hat mich vergewaltigt. "Er ist in meiner Klasse. Was soll sonst sein?" Meine Augen suchen seine. Ich rede mir ein, dass er mir glauben wird, wenn ich jetzt seinem Blick standhalten kann. Dazu lässt er mir aber keine Chance. Anstatt meinen Blick aufzufangen, achtet er auf jede kleine Bewegung in meiner Gestik und Mimik. Schnell entknote ich meine Hände und lege sie scheinbar entspannt auf den Rand des Bettes, auf dem ich sitze. Dort kralle ich meine Finger aber so feste wie es geht in das Holz. An irgendwas muss ich mich gerade festhalten, sonst würde ich in ein bodenloses Loch fallen.
"Das musst du mir sagen."
"Was soll sein?", frage ich scheinheilig nach.
"Soll ich dir sagen, was ich denke?", will er von mir wissen, während seine Augen immer noch über meinen Körper wandern. Ich nicke und hoffe, dass er keine richtigen Rückschlüsse ziehen kann.
"Du hast ein halbes Jahr kein Wort über die Schule verloren und jetzt taucht dieser Johannes auf und irgendwas ist mit ihm, oder?" Freundlicherweise erwähnt er nicht das Flashback. Natürlich weiß er auch, dass es zumindest auch mit der Schule zu tun hat. Sonst weiß er jede Kleinigkeit über mein Leben.
"Nein!", wehre ich entschieden ab. "Es ist nichts mit ihm! Wir sind zwar keine Freunde, aber das war es auch." Das war es auch. Schön wäre es. Ich wünschte, es wäre so. 
Warum sag ich es nicht einfach? Es wäre so einfach. Es sind nur Buchstaben, die aneinandergereiht einen Sinn ergeben würden. Ich wurde von diesem Jungen vergewaltigt! Bitte helfen Sie mir! Ich sollte es raus schreien, so lange, bis jedes kleinste Bisschen meiner Geheimnisse aus meinem Körper verschwunden ist. Schon so lange habe ich das Gefühl, von diesem Teil meiner Vergangenheit erdrückt zu werden. Er lässt mir keine Luft zum Atmen mehr und ringt mich immer weiter in die Knie. Es wird niemals möglich sein, es einfach zu vergessen. So sehr ich es auch versuche, am Ende ist es egal. Irgendwann werden mich diese ganzen Lügen erdrücken.
Warum ich mir fest auf die Lippe beiße und nichts sage, weiß ich nicht. 
"Da ist doch was in dir!", bedrängt mich Doktor Schäfer mit lauter Stimme. "Irgendwas verschweigst du uns allen und wir können dich nicht therapieren, wenn du uns nicht die Wahrheit sagst."
Meine Stimme zittert, als ich zu meiner üblichen Antwort ansetze. "Ich brauch keine Hilfe." Dieses Gespräch kann ich gerade nicht ertragen. Wenn er weiter mit mir redet, dann werde ich zusammenbrechen und ihm die Wahrheit erzählen. Meine Kraft ist nun, da Johannes so kurz nach dem Flashback aufgetaucht ist, vollkommen erschöpft. Ich habe einfach keine Kraft mehr, um weiter Widerstand zu leisten.
"Bitte gehen Sie", bitte ich den Psychotherapeuten deswegen in fast flehendem Tonfall. "Ich kann das gerade nicht."
"Warum musst du immer Widerstand leisten?"
Er wird nicht gehen. Fest entschlossen, nicht zu weinen, starre ich den Mann an. Widerstand ist etwas Gutes. So bleibe ich weiter ich selbst.
"Du willst also nichts sagen?", fragt er, nachdem ich ein paar Sekunden lang nichts gesagt habe.
"Nein."
Es läuft doch immer aufs Gleiche raus. Ist er es nicht so langsam leid, mich immer wieder die gleichen Sachen zu fragen, immer wieder die gleichen Antworten zu bekommen? Will er nicht so langsam aufgeben und mich einfach in Ruhe lassen? Es wäre so viel leichter, wenn er nicht genauso stur wäre wie ich. "Warum lassen Sie mich nicht einfach mal in Ruhe?", frage ich deswegen. Es war vorwurfsvoll gemeint, klingt aber eher neugierig.
Irgendwas ruft diese Frage in ihm hervor. Ich weiß nicht, was es ist, aber aus irgendeinem Grund wirkt mein Gegenüber auf einmal sehr viel ernster als gewöhnlich. "Weil du das sonst nicht überlebst", antwortet er ohne ein Spur Freude in seinem Gesicht und seiner Stimme. Er meint es todernst. Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll und schweige deswegen mit schlechtem Gewissen. Meine Lippen sind feste zusammengepresst, meine Augen weit aufgerissen. So viel Ehrlichkeit habe ich nicht erwartet.
Mehrmals setze ich zu einer Antwort an, lächle zögerlich und schweige dann doch. Erst nach zehn Sekunden antworte ich "Okay." Es ist nur ein kurzes Wort, was eigentlich nichts aussagt. Aber es ist das einzige Wort, was mir gerade richtig erscheint. Das kann ich nicht gutem Gewissens abstreiten. 
"Was sagst du dazu?", fragt er interessiert.
"Ich will nicht mehr leben", gebe ich traurig flüsternd zu. Es ist eines der ehrlichsten Dinge, die ich jemals zu einem Menschen gesagt habe. Noch nie habe ich meine Selbstmordversuche vorher angekündigt. Ich wollte damit keine Aufmerksamkeit erreichen, ich wollte sterben. Ich hab das Leben und die Angst nicht mehr ausgehalten.
"Wenn es schlimm wird, dann musst du zu uns kommen, hörst du?" Jetzt wirkt er nicht mehr so ernst wie vorher. Zwar lächelt er nicht, aber sein Blick ist ein total anderer.
"Ja." Ich fühle mich verletzlich. Immer wenn ich einen weiteren Teil meiner Seele offen lege, fühle ich mich verletzlich. Und das, was ich gerade gesagt habe, ist ein größeres Stück als das, was ich normalerweise präsentiere. Um dieses Gefühl loszubekommen, fange ich an zu reden: "Es tut mir leid, dass ich es Ihnen so schwer mache. Ich will Ihnen gar keine Schwierigkeiten machen."
"Ich weiß. Es ist nicht deine Schuld, mache dir keinen Stress." 
Ich nicke, allerdings nicht begeistert. Verantwortung ist etwas, was normal ist und ich wäre gerne normal. Verantwortung ist etwas Gutes.
"Kann ich Sie was fragen?", frage ich, die ein Stück weit vertraute Atmosphäre ausnutzend. Über den Tod möchte ich gerade nicht reden.
"Natürlich", willigt Doktor Schäfer sofort ein. Auch ihm scheint das Gespräch zu schwer und traurig gewesen zu sein.
"Was denken Sie von mir?" Nie hat mir das jemand gesagt. Immer rede und rede ich, aber nie hat mir jemand wirklich gesagt, was er von mir hält. Nur ich muss immer meine Meinung zu allem Preis geben.
Der Angesprochene lächelt und scheint sich die richtigen Worte zurecht zu legen. Es dauert eine Weile, bis er sie gefunden hat. "Ich denke, dass du viel zu früh kämpfen musstest und deswegen anders bist als andere in deinem Alter."
"Anders!", entfährt es mir verächtlich. 'Anders' ist eine sehr euphemistische Beschreibung für meine Persönlichkeit. 'Völlig gestört' würde es eher treffen.
"Ja, anders. Es ist nichts Schlechtes daran, nicht immer den anderen zu folgen."
Auch wenn ich mein ständiges Reflektieren und Nachdenken verabscheue, muss ich ihm Recht geben. Es ist gut, nicht immer zu sein wie die anderen. Es ist gut, auch mal gegen den Strom zu schwimmen. Aber nur bedingt. Es ist nicht gut, so zu sein wie ich.
"Was denkst du?", fragt Doktor Schäfer.
"Dass Sie Recht haben."
Er lächelt abschließend und steht auf. "Es tut mir leid, aber ich habe jetzt eine Sitzung. Wenn was ist, dann kommst du einfach, in Ordnung?"
Ich nicke. "Verstanden."

13.10.2016, 1660 Wörter
Lied für dieses Kapitel: In the end von Linkin Park

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