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Langsam, fast bedächtig setze ich mich in meinen Rollstuhl und rolle die Auffahrt lang. Mir kommen fast die Tränen, so aufgewühlt fühle ich mich. Aber ich möchte nicht weinen und so hole ich einmal tief Luft, bevor ich die Haustür mit zitternden Händen öffne.
Der Flur, wie immer. Die gleichen Jacken hängen rechts an den Kleiderbügeln, die gleichen Fotos von uns Vieren als glückliche Familie hängen in Bilderrahmen an der Wand und selbst an Geruch kann ich mich so gut erinnern. Es ist so, als wäre ich niemals weg gewesen. Alles ist so vertraut.
"Ich bin wirklich hier", flüstere ich so leise, dass meine Eltern, die hinter mir ins Haus kommen, nichts davon mitbekommen.
"Willst du kurz in dein Zimmer und erst mal ankommen?" Ich nicke und fahre in das Zimmer, das mir gehört, seitdem ich nicht mehr ohne Probleme in den ersten Stock komme. Früher, bevor ich aus dem Fenster gestürzt bin, hatte ich oben mein Zimmer, aber dann wurde das frühere Arbeitszimmer zu meinem Reich, damit ich nicht ständig diese Treppe bewältigen muss.
Eigentlich ist das Zimmer viel zu optimistisch gestaltet für mich. Der fast klinisch aufgeräumte Raum hat zwei gelb gestrichene Wände, die mit jede Menge Poster und Fotos dekoriert sind. In meinem großen Bücherschrank liegen neben den Büchern auch meine zwei Stoffhasen von früher herum. Ich habe diese Hasen zu abgöttisch geliebt. Ohne sie konnte ich nicht einmal einschlafen. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Damals hatte ich keine anderen Probleme als Monster, die unter meinem Bett auf mich warten. Fast alles an meinem Zimmer erinnert an eine unbeschwerte Kindheit und Jugend, an die Maske, die ich jahrelang aufrecht erhalten konnte. Nur der Griff, der über meinem Bett hängt und die Tatsache, dass vor meinem Schreibtisch kein Schreibtischstuhl steht, erinnern in diesem Zimmer an den dunklen Teil meiner Vergangenheit. Es ist so hässlich.
Auf meinem Schreibtisch liegt mein Philosophieheft. Mir kommt das so unwirklich vor, fast wie eine Zeitreise. Es ist schon so lange her, dass ich meine Energie auf die Schule verwenden konnte und nicht abends totmüde vom ständigen Nachdenken und Reflektieren über mich selbst war. Ich fahre langsam zu meinem Schreibtisch und schaue mir meine Sachen an. Schopenhauer, ich erinnere mich.

"Und, alles so wie immer?" Warum kann mir meine Mutter nicht einmal eine ruhige Sekunde gönnen, der ich über mein altes Leben nachdenken kann? "Ja", antworte ich tonlos.
"Kann ich dir was Gutes tun? Willst du vielleicht einen Tee? Soll ich dir irgendwas bringen oder brauchst du etwas?"
Sie gibt sich wirklich Mühe, dass es mir hier gut geht. Diese kleine Frage besänftigt mich wieder. Es ist auch für sie schwer, ich sollte nicht so egoistisch sein.
"Nein, Mama, mir geht's wirklich gut, danke." Ich lächle sie vorsichtig an und sie lächelt mindestens genauso vorsichtig zurück. Ohne ein weiteres Wort geht meine Mutter wieder aus meinem Zimmer. Ein paar Momente später höre ich Töpfe klirren.
Jetzt bin ich wohl wirklich zu Hause angekommen. Dazu gehört gleich das Abendessen und dazu gehört es auch, meine Sachen in meinem Schrank zu haben. Die Zeit bis zum Essen verbringe ich damit, meine Klamotten säuberlich in den Schrank einzuräumen. Auch wenn es sich eigentlich nicht lohnt, da ich in wenigen Tagen wieder in die Klinik muss, aber ich kann Unordnung bis auf den Tod nicht ausstehen und ich weiß nicht, wie ich mich sonst beschäftigen soll. Dann fällt mir mein Laptop in die Augen.
Soll ich? Soll ich nicht? Es ist schon ewig her, dass ich auf Facebook war oder meine E-Mails oder Whatsappnachrichten gecheckt habe und bis gerade habe ich auch gar nicht an mein Handy gedacht. Mag komisch erscheinen für eine Sechszehnjährige, aber ich hatte nie Freunde, mit denen ich hätte schreiben können und Facebook hatte auch nur den Zweck, irgendwelchen Promis zu folgen. Bis dann schließlich die vielen Hasskommentare kamen.
Ich habe mich total darin verrannt und war ständig online und habe mir diese Nachrichten durchgelesen, die so sehr geschmerzt haben. So oft lag ich spät in der Nacht in meinem Bett und habe mir zitternd und heulend durchgelesen, was über mich geschrieben wurde.
Soll ich nochmal einen Blick riskieren? Nur einen Blick, um zu wissen, ob das alles immer noch existiert? Ob es sich vielleicht magischerweise in Luft aufgelöst hat?

Noch bevor ich einen endgültigen Entschluss gefasst habe, klopft es an meiner Zimmertür und mein Vater ruft mich mit angespanntem Gesichtsausdruck zum Essen.
Vielleicht kann ich meine Eltern beruhigen, wenn ich jetzt nicht stundenlang mir ihnen rumdiskutiere und trotzdem nichts esse. Vielleicht können sie diese Nacht vernünftig schlafen, wenn sie wissen, dass sich mein Verhalten wirklich zum Positiven gewendet hat.
Jetzt muss ich mich nur überwinden. Um den ersten Schritt zu tun, stütze ich mich auf meine Krücken und öffne die Tür langsam.

"Hi Hanna!" Ich schrecke zusammen. Dass Patrick hier ist, hatte ich schon wieder vergessen. Ich blicke zu ihm auf, als er mir von der Treppe entgegenkommt. Kurz scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, als ich meinen Bruder betrachte, der mit seinen türkisen Augen und seinen dunkelbraunen lockigen Haaren eindeutig mit mir verwandt ist. Seit dem letzten Mal, dass ich ihn gesehen habe, ist er deutlich erwachsener geworden. Ein bisschen unrasiert, aber mit deutlich mehr Muskeln und ein bisschen schlanker blickt er auf mich herab und Unsicherheit zeichnet sich in seinem Gesicht ab. Seine Stimme und sein Auftreten rufen so viele Emotionen in mir hervor, dass ich sie für einen Moment nicht einordnen kann. Nach diesem Moment wird mir klar, dass es mehr als nur die unglaubliche Wut ist, die ich erwartet hatte. Natürlich bin ich wütend und auch enttäuscht, weil er mich im Stich gelassen hat, aber ich merke auf einmal, dass ich ihn wirklich vermisst habe und mich nun auch darüber freue, seine Stimme zu hören.
Ich atme tief ein und die Zeit geht wieder ihre gewohnten Bahnen. Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, drehe ich mich schweigend um und humple in Richtung Küche.
"Soll ich dir helfen?" Warum fragt er mich das jetzt? Es sind nur zehn Meter bis zur Küche, das schaffe ich nun auch alleine.
"Nein." Meine Stimme klingt erstickt, so als ob ich gerade geweint hätte. Dabei habe ich das nicht. Ich lasse mich auf den erstbesten Stuhl in der Küche fallen und lege die Krücken erleichtert vor mir auf den Boden. Vor meiner Familie würde ich das niemals zeigen, aber ich bin immer stolz auf mich, wenn ich diese kleinen Strecken zu Fuß bewältigen kann.
Patrick schmeißt sich neben mich auf einen Stuhl. "Du darfst uns auch helfen, den Tisch zu decken", kommentiert meine Mutter und ich fühle mich für einen kurzen Moment wirklich wieder so, als ob ich zu Hause wäre.
"Soll ich auch helfen?", frage ich dann auf einmal wieder unsicher. Wie haben wir das früher gemacht? Meine Eltern haben es bestimmt genauso bei mir vorausgesetzt wie jetzt bei meinem Bruder.
Ich möchte gerade meinen Krücken aufheben und mich auf sie stützen, aber mein Vater hält mich zurück. "Bleib ruhig sitzen." Ohne dass ich ihn zurückhalten kann, setzt stellt er einen Teller mit Käsespätzle und Salat auf den Tisch. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, es sieht so lecker aus. "Danke", murmle ich unsicher. 
Eine böse Stimme meldet sich in meinem Hinterkopf. Fett und Kohlenhydrate. Aber zumindest den Salat kann und werde ich essen.
Als die anderen am Küchentisch sitzen und wir anfangen zu essen, sind wir das erste Mal seit einer Ewigkeit wieder als Familie zusammen. Früher hat es uns einmal etwas bedeutet, zusammen zu essen und zusammen als Familie Dinge zu besprechen. Ich habe das alles klaputt gemacht.
Langsam spieße ich ein Stück Salat auf meine Gabel und stecke sie nach kurzem Überlegen in den Mund, wohl wissend, dass sowohl meine Eltern als auch mein Bruder mich beobachten. Natürlich tun sie das. Ich habe schließlich schon ewig nicht mehr vor ihnen gegessen.
Für eine gewisse Zeit sagt keiner etwas. Das einzige, was in diesem Raum Geräusche macht, ist das Metall der Gabeln, das auf Porzellan trifft.
"Es ist echt lecker", murmle ich irgendwann leise, obwohl ich noch fast nichts runterbekommen habe. Ich konnte diese Stille nur einfach nicht aushalten.
"Danke", antwortet meine Mutter und beäugt mein Essverhalten kritisch. Danach herrscht wieder Totenstille.

Schließlich sind die meisten Teller gelehrt und meine Eltern sind weitesgehend mit dem zufrieden, was ich essen konnte.
"Und was jetzt?" Meine Mutter scheint unsicher zu sein, wie es jetzt weitergeht. "Willst du vielleicht was spielen? Wir können auch einen Film gucken oder uns einfach nur unterhalten."
"Ich würd gerne erst mal in mein Zimmer, wenn das für euch okay ist. Ich bin unglaublich müde", antworte ich und gähne. Es ist die Wahrheit, ich bin wirklich müde. Dieser Tag war lang und anstrengend.
Aber ich möchte mich vor allem heute nicht mehr mit Patrick auseinandersetzen. Das Aufeinandertreffen mit ihm hat mich irritiert und verunsichert und ich habe heute nicht mehr die Kraft dazu, mich mit ihm zu streiten.
"Schlaf gut", wünschen mir meine Eltern. Mein Bruder brummt zustimmend und ich beeile mich mit Zähne putzen und umziehen. Als ich mich gerade ins Bett legen möchte, um wirklich zu schlafen, obwohl es erst 19:30 Uhr ist, fällt mein Blick auf meinem Laptop. Soll ich?

Cannot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt