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Ich sinke in mir zusammen, kann einfach nicht mehr weiterreden. Es geht nicht mehr. "Hey, Hanna!", flüstert Doktor Tibos schockiert und bietet mir etwas hilflos Taschentücher an. "Natürlich verstehe ich das! Es ist doch alles gut, beruhig dich wieder." Seine Stimme hat einen merkwürdigen Ton bekommen, den ich absolut nicht zuordnen kann. Das macht mir ein bisschen Angst. Normalerweise habe ich keine großen Schwierigkeiten dabei, die Stimmungen der anderen einzuschätzen. Mangels Alternative beruhige ich mich tatsächlich ein wenig. Doktor Tibos wirkt erleichtert.
"Ich hab seit Ewigkeiten nicht probiert, mich umzubringen, also was soll das Theater?" Meine belegte Stimme klingt nicht wirklich überzeugend. Ich habe tatsächlich schon länger nicht versucht, mir das Leben zu nehmen, aber auch nur, weil immer jemand da war, der mich mit Worten oder Fixierungen davon abgehalten hat. Glücklicherweise ignoriert Doktor Tibos dieses Argument gekonnt. 
"Wir denken einfach, dass du... wie soll ich das sagen? Wir denken, dass... es nicht leichter für dich wird, jetzt, wo das passiert ist. Mit Johannes wird das natürlich genauso besprochen wie mit dir, aber wir glauben nicht, dass er einsichtig ist."
"Wo ist das Problem?" Natürlich verstehe ich ganz genau, was das Problem ist. Er kann es wieder machen, wenn er keinerlei Einsicht zeigt. Allerdings habe ich es so lange ausgehalten, dass ein paar Wochen mehr oder weniger keinen großen Unterschied mehr machen sollten. Er hat noch nie Einsicht gezeigt.
"Wir haben eine Idee mit der du vielleicht verhindern kannst, dass so etwas nochmal passiert." Doktor Tibos hält unsicher inne.
"Die wäre?" Warum kann er sie mir nicht einfach mitteilen? Für eindrucksvolle Pausen habe ich wirklich keinen Nerv.
"Du könntest zur Polizei gehen und ihn wegen Vergewaltigung und Körperverletzung anzeigen." Ohne darüber nachzudenken, möchte ich ablehnen. Natürlich habe ich schon oft darüber nachgedacht, ihn und die anderen anzuzeigen. Das liegt eigentlich ziemlich nahe, wenn jemandem so was passiert. Allerdings hätte mir nie jemand geglaubt. Meine Klasse hätte sich nicht gegenseitig verpetzt und die Verletzungen hätten von überall stammen können. Außerdem wäre das alles nicht leichter geworden, wenn ich jemanden angezeigt hätte. Ich wollte nie wissen, was sie dann mit mir gemacht hätten und habe deswegen aus Angst geschwiegen. Dass das feige war, war mir die ganze Zeit klar, aber ich hatte einfach Angst.
"Bevor du jetzt verneinst, denke wirklich mal darüber nach. Hast du so große Angst davor?" Zögernd nicke ich und setze leise zu einer Erklärung an: "Das würde nur noch mehr Ärger machen." Doktor Tibos runzelt nachdenklich die Stirn und blickt mich dann beinahe spöttisch an. "Wie willst du denn noch mehr Ärger haben? Tut mir leid Hanna, aber das alles muss doch der größte Alptraum für dich sein. Es kann doch nur noch besser werden, oder?" Auch so etwas wäre niemals aus dem Mund von Doktor Schäfer bekommen. Er überlässt das ausgesprochene Urteilen immer mir und riskiert nur selten eine Wertung über meine Situation.
Ein bisschen verblüfft schaue ich auf meine Hände. Mein Gehirn rattert. Auch wenn ich es wirklich ungern zugebe, hat Doktor Tibos wirklich Recht. Wenn ich nichts unternehme, dann muss ich hier immer weiter in der Angst leben, dass Johannes mir weiter weh tut.
"Könnten Sie Johannes nicht vielleicht in eine andere Klinik stecken? Das ist bestimmt aufwendig, aber das wäre doch leichter, oder?" Ich versuche die aufkommenden Zweifel zu verdrängen und mich stattdessen rauszureden. Doktor Tibos lacht als Reaktion wissend. Das ist das Dämliche daran, wenn man mit Psychologen diskutieren möchte. Sie wissen meistens, warum man etwas sagt und können etwas Passendes darauf erwidern, ohne dass man was dagegen machen kann. "Du kannst doch nicht immer weiter vor ihm und den anderen weglaufen! Irgendwann musst du doch mal was dagegen machen, oder nicht?"
"Ich hab keine Kraft dazu, okay?", entgegne ich verzweifelt. "Die Konfrontation gestern war mir wirklich genug!" Vielleicht zeigt Doktor Tibos Verständnis dafür, dass das gestern einfach zu viel war. Innerlich hoffe ich, dass ich ihn mit der Erinnerung an gestern oder dazu überreden kann, mich in Ruhe zu lassen. Es wäre doch ausreichend, wenn sie Johannes einfach wo anders hinschicken würden. Danach könnten wir alle so tun, als wäre all das nie passiert.
"Genau deswegen musst du endlich handeln!", widerspricht er mir aber energisch. Natürlich geht mein Plan nicht auf. "Wenn du das jetzt einmal wirklich durchziehst, dann musst du so etwas wie gestern nicht mehr erleben. Du musst nur zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Willst du ihn mit einer Vergewaltigung durchkommen lassen? Willst du das etwa wirklich?" Das Wort 'Vergewaltigung' betont er angewidert.
Betreten schüttle ich den Kopf. "Natürlich nicht", gebe ich geknickt zu. Er sollte damit nicht einfach so durchkommen. Das würde ihm signalisieren, dass er einfach immer weiter machen kann. Es macht ja niemand etwas dagegen.
"Aber mir würde sowieso keiner glauben! Ich weiß nicht mal, wie alt ich war, okay? Vielleicht kommt die Erinnerung irgendwann wieder, aber vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon? Das reicht doch niemals für eine Anzeige!" Endlich habe ich ein gutes Argument gefunden. Die Psychologen verständigen sich untereinander und so weiß Doktor Tibos mit ziemlicher Sicherheit, was ich Doktor Schäfer erzählt habe. Das ist nicht viel. Es reicht zwar, um ungefähr abschätzen zu können, was mir widerfahren ist, aber es ist vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Wie wollen mich die Polizisten auf meine Glaubwürdigkeit prüfen, wenn ich keinerlei Zusammenhänge beschreiben kann?
"Versuche es doch", widerspricht mir Doktor Tibos erneut. "Polizisten wissen doch, dass Amnesie vorkommen kann. Und wenn du es nicht versuchst, dann wird er einfach immer weiter machen!"
"Denken Sie wirklich?", frage ich traurig. Er wird immer weiter machen, genauso wie die anderen. Warum sollten sie auch damit aufhören? Schließlich habe ich nie ernsthaft versucht, etwas dagegen zu machen. Sie haben auch bisher immer weiter gemacht. Es hat ihnen nicht einmal gereicht, dass ich querschnittsgelähmt bin. Nicht einmal das war genug der Demütigung. Sie haben sich darüber lustig gemacht, obwohl es ihre Schuld war. Vielleicht hätte ich es ja wirklich ändern können, wenn ich den Mund aufgemacht hätte.
"Hat er doch bisher auch immer, oder?" Doktor Tibos klingt nun fast triumphierend. Er weiß, dass er die Diskussion gewonnen hat und ich an meiner bisherigen Entscheidung anfange zu zweifeln.
"Ja, schon." Mir fällt nicht mehr ein, was ich dagegen argumentieren könnte. "Okay." Dieses Wort habe ich gesagt, obwohl ich mich eigentlich noch gar nicht bewusst dafür entschieden hatte, ihn anzuzeigen. Nun ist es raus und wahrscheinlich komme ich da nicht mehr raus. 
"Also willst du ihn anzeigen?" Doktor Tibos klingt erleichtert. Nein, will ich nicht. Aber ich weiß nicht mehr, was ich dagegen argumentieren soll. "Okay", antworte ich wieder nach einigen Momenten und schaue abwartend in Richtung des Psychologens. Dieser erwidert meinen Blick zufrieden. "Sehr gut. Soll ich dich später zur Polizei begleiten?"
"Okay." Ich fühle mich wie erstarrt. Jetzt ist das passiert, was niemals hätte eintreffen sollen: Ich muss petzen. Niemals wollte ich vor jemandem solche Dinge erzählen und jetzt beichte ich das, was mir passiert ist, vollkommen fremden Menschen. Ob das gut ausgehen wird? Auch wenn die Angst davor nicht zu verleugnen ist, schwingt in ihr auch ein kleinen Stück Hoffnung mit. Vielleicht ändert sich ja was. Vielleicht wird er wirklich bestraft und sieht ein, dass er vollkommen falsch gehandelt hat. Dass ich darauf wahrscheinlich lange warten kann, ist mir bewusst. Deswegen versuche ich die Hoffnung herunterzuschlucken. Es gelingt mir nicht. Sie bleibt an mir haften wie eine Klette. Ich kann sie nicht abschütteln.
"Du kannst in drei Stunden frühstücken", wechselt nun Doktor Tibos das Thema. "Das solltest du auch machen. Ich bin dann da und danach besprechen wir alles weitere. Ist das mit den Schmerzen soweit auszuhalten?"
"Ja", antworte ich immer noch erstarrt. Habe ich gerade wirklich eingewilligt, zur Polizei zu gehen?
"Dann solltest du vielleicht noch eine Runde schlafen. Du brauchst später so viel Kraft, wie du hast und Müdigkeit ist nicht unbedingt förderlich." Er begleitet mich zurück in mein Zimmer. Die ganze Psychiatrie ist wie ausgestorben. Keine Menschenseele lässt sich hier blicken. Nur Doktor Tibos und ich scheinen zu existieren. Wir sind die einzigen, die Geräusche machen. Unendlich vorsichtig öffne ich meine Zimmertür und werfe Doktor Tibo ein schüchterndes Lächeln zu. "Gute Nacht", flüstert er, um die wieder eingeschlafene Carina nicht aufzuwecken. "Nacht", murmle ich und schließe die Tür hinter mir. 
Ein leises Seufzen entfährt mir. Also werde ich wirklich zur Polizei gehen müssen. Noch habe ich keine Ahnung, woher ich die ganze Kraft dazu nehmen soll, diese Geschichte noch einmal zu erzählen. Ich traue mich nicht einmal, darüber nachzudenken, also wie soll ich darüber reden können? 
Über meine düsteren Gedanken falle ich tatsächlich nochmal in einen unruhigen Schlaf. In meinen Träumen renne ich unendlich weit, weil ich vor einer dunklen Macht panische Angst habe. Als ich müder als zuvor aufwache, wünsche ich mir für einen Moment, dass ich wirklich noch wegrennen könnte.

Beim Frühstück fehlt mir jegliche Kraft dazu, gegen meine Essstörung anzukämpfen. Ich kann mich einfach heute nicht dafür entscheiden, eine Gewichtszunahme zu riskieren. Nachdem die Zeit abgelaufen ist, die ich zum Frühstücken zur Verfügung hatte, schmeiße ich achtzig Prozent davon in den Mülleimer. Es geht einfach heute nicht. Viel zu aufgeregt bin ich, wenn ich an die Polizei denke. Wenn das vorbei ist, kämpfe ich wieder dagegen an, das verspreche ich mir selbst. Nach heute kämpfe ich wieder um jede Kalorie und werde gewinnen. Ich werde diese blöde Essstörung besiegen. Aber vorher muss ich etwas viel Schlimmeres besiegen. Das Schweigen begleitet mich schon so lange und heute werde ich gegen es ankämpfen müssen.

1550 Wörter, 07.01.2017
Euch allen ein frohes neues Jahr, das hoffentlich besser läuft als das alte :-) Was steht so an im neuen Jahr?

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