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Das Essen dauert ähnlich lange wie sonst, aber auf eine seltsame Weise beruhigt es mich. Das Kämpfen um jeden Bissen und das schlechte Gewissen danach, das Ringen mit mir und ob ich das Essen danach in meinem Magen behalten soll oder nicht... All das ist so vertraut, so normal.

"Gut", lobt mich Doktor Schäfer, als ich endlich fertig bin. Schon wieder sind wir die letzten, die sich in dem Speisesaal befinden. "Fühlst du dich stark genug, um heute deine gewohnten Therapien zu machen?", fragt er mich mit aufmerksamen Blick, nachdem ich ihn fragend angeguckt habe.
"Keine Ahnung", antworte ich ehrlich und warte ab, bis er sich die Haare aus seinem Gesicht gestrichen hat. "Ich schätze, ich probiere es einfach." Meine Stimme zittert während dieser Aussage etwas, was glücklicherweise von dem Psychotherapeuten unkommentiert bleibt. Er zögert mit seiner Antwort, den Blick wachsam auf mein Gesicht gerichtet. Was mag er denken?
"Ja, in Ordnung", stimmt er schließlich zu, als ich mir fast sicher bin, dass er sich mit seiner Antwort noch sehr viel Zeit lassen wird. "Aber wenn du es nicht schaffst, dann sag es meinen Kollegen. Sie wissen Bescheid. In Ordnung?"
"Super", antworte ich mit einem ironischen Grinsen. Es wissen alle Bescheid über den Psycho. "Ich muss mich umziehen und duschen, wenn das ok ist."
"Natürlich. Dann sehen wir uns heute Nachmittag zur Therapiestunde. Steht alles auf deinem Plan."
"Bis dann", verabschiede ich mich und fahre in Richtung meines Zimmers. Nun habe ich etwas mehr als eine Stunde Zeit, um die morgendliche Routine zu erledigen. Also muss ich mich nicht beeilen. Ich atme auf, als ich ein verlassenes Zimmer vorfinde. Nun kann ich wirklich kurz entspannen, bevor es weiter geht. Glücklicherweise ist das Innere meines Magens nicht mehr auf dem Boden zu erkennen, weswegen ich den gestrigen Tag zumindest kurz ignorieren kann.
Ich stelle die Dusche an und lasse das heiße Wasser auf meine Haut und Haare prasseln. Die Dusche ist der einzige Ort, an dem ich es mir erlaube, loszulassen und zu weinen. Es merkt niemand. Nachdem ich das Wasser wieder abgestellt und mich angezogen habe, putze ich meine Zähne und binde meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz, der mir locker über die Schultern fällt. Jetzt bin ich wieder ich selbst und stark genug, mit diesem Tag klar zu kommen.
In der verbliebenen Zeit denke ich mir ein Lügengeflecht nach dem nächsten aus. Jedes einzelne verwerfe ich wieder, da keines von ihnen auch nur im Ansatz realistisch ist. Also muss ich wieder in mein Schweigen hüllen. Soweit so gut.
Ein erneuter Blick auf dem Plan verrät mir, dass ich nun Kunsttherapie bei Frau Becker habe. Wenn mir eins nicht liegt, dann ist es Kunst und ich verstehe nicht, was mein Gekritzel über den inneren Zustand meiner Seele aussagt. Zusätzlich mag ich Frau Becker nicht besonders. Ich kann nicht mal richtig sagen, woher mein Missfallen kommt, aber sie ist nicht der Mensch, dem ich Geheimnisse meines Lebens anvertrauen würde.

Pünktlich fahre ich in den Kunstraum und setze mich an eine Leinwand, die irgendwo in der Mitte steht. "Hallo", murmle ich in Richtung der alten Frau mit den grau-blonden Haaren.
"Guten Morgen, Hanna", antwortet sie steif und mustert mich mit ihren grauen Augen. "Wie geht es dir?"
"Gut", antworte ich ohne große Überlegung. Normalerweise fragt sie das nicht direkt zu Anfang, sondern während sie ihre Kreise um uns zieht und über unsere Schulter sieht.
"Sag mir, wenn es nicht mehr geht."
"Mir geht es gut, ok?", brause ich wütend auf. Meine Blick liegt starr auf ihren Augen. Ohne ihn abzuwenden schnappe ich mir einen beliebigen Pinsel und tunke ihn in irgendeine Farbe. Erst dann erlaube ich es mir, den Blick abzuwenden.
"Ja", antwortet sie und fängt an, sich mit Carina zu unterhalten, die aktuell auch in der Kunsttherapie ist. Die nächste halbe Stunde verbringe ich damit, irgendwelche Muster auf die schon bald nicht mehr weiße Leinwand zu klatschen.
"Wie fühlst du dich?", ertönt plötzlich Frau Beckers Stimme hinter mir. Normalerweise weiß ich immer ungefähr, wo sich die Therapeuten aufhalten, da ich auf eventuelle Fragen direkt antworten möchte. Halb achte ich also meistens darauf, wo sich der jeweilige Therapeut befindet. Gerade hatte ich aber über erneute Ausreden und Lügen nachgedacht und die Wirklichkeit aus den Augen verloren, weswegen ich mich heftig erschrecke und den Pinsel durch den halben Raum schmeiße. Mit hochrotem Gesicht entschuldige ich mich bei dem Jungen, den ich fast mit dem Pinsel getroffen hätte.
"Wie war Ihre Frage nochmal?", frage ich dann in Richtung Frau Becker, die peinliche Situation ignorierend. Natürlich kann ich mich gut an die gestellte Frage erinnern, aber diese paar Sekunden erlauben mir einen kurzen Aufschub der Beantwortung. Außerdem hoffe ich, dass meine Gegenfrage davon ablenkt, dass ich mich gerade eindeutig erschrocken habe, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Die Angesprochene wiederholt ihre Frage steif und stellt sich gegenüber von mir hin. Ihre Stirn ist nachdenklich gerunzelt und sie scheint mich mit ihrem Blick durchbohren zu wollen.
"Ganz ok, glaub ich", antworte ich unschlüssig. Es ist so viel in den letzten 24 Stunden passiert und ich habe die Tragweite noch nicht ganz begriffen. Stattdessen fühle ich mich furchbar durcheinander und weiß gerade gar nicht, wie ich mich fühlen soll.
"Glaubst du?", fragt sie interessiert nach.
"Ja", antworte ich schlicht und ignoriere, dass sie mich mit ihrer Nachfrage zur Erläuterung meiner Wortwahl dazu bringen wollte, diese zu erklären.
"Warum bist du dir nicht sicher?"
"Weil mein Bild scheiße aussieht", grinse ich und betrachte das Bild kritisch. Es sieht wirklich alles andere als schön aus. Wahllos sind irgendwelche Farben und Formen nebeneinander geklatscht. Selbst Frau Becker sollte es schwer fallen, dort etwas hineinzuinterpretieren.
"Und der wahre Grund?", will sie mit unfreundlicher Stimme von wissen, anstatt sich mein Bild genauer anzusehen, wie ich gehofft hatte. Meine Augen verengen sich unwillkürlich wütend.
"Sie wissen den wahren Grund genau!", fahre ich sie unfreundlich an. Der Pinsel, den ich bis gerade noch in meiner Hand gehalten habe, landet unsanft in dem Becher voller Farbwasser. "Und nein, ich werde nichts darüber sagen!", füge ich nicht weniger heftig hinzu, damit sie mir nicht diese Frage stellen muss. Die Angesprochene wirkt nicht begeistert darüber, dass ich es so radikal ablehne, mit ihr darüber zu sprechen, bombardiert mich aber nicht mit Vorwürfen.
"Das ist in Ordnung für uns. Gucken wir uns dein Bild genauer an."
Nun vertieft sie sich in Interpretationen über mein wirres Gekritzel. Sie stellt mir hin und wieder Fragen, die ich versuche zu beantworten, obwohl ich ihr nicht richtig zuhöre. Meine Gedanken schweifen immer ab, zu dem Moment vor ein paar Jahren, dem Moment, der mich jetzt in diese missliche Lage gebracht hat.

Auch am Nachmittag versucht Doktor Schäfer an mich heranzukommen, indem er mir immer wieder die gleichen Fragen stellt. Er muss es so langsam leid sein, sich wie ein Papagei zu verhalten.
Meine einzige Reaktion ist das Schweigen, das mich schon so lange begleitet hat und immer zu mir gehören wird. Schließlich entlässt mich auch er aus seiner Therapiestunde, aber nicht ohne mir vorher einzuschärfen, dass ich sofort zu ihm oder einem seiner Kollegen kommen soll, wenn es mir schlecht ginge.
"Ok", nicke ich und werde endlich in Ruhe gelassen. Mittlerweile bin ich wieder so müde, dass ich direkt einschlafen könnte. Also lasse ich das Tagebuch schreiben für heute und falle müde in mein Bett. Der Schlaf will mich allerdings nicht übermannen und so liege ich auch noch zwei Stunden später regungslos im Bett und stelle mich schlafend, als sich Carina leise fluchend in ihres legt. Irgendwann falle ich dann in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich immer wieder panisch aufwache.

Der nächste Tag beginnt mit Regen, sowohl draußen als auch in mir drinnen. Er scheint die ganze Welt in ein trübes Grau zu tauchen und die Sonne verdrängen zu wollen. Missmutig kämme ich meine Haare und mache mich dann zu der ersten Therapiestunde auf. Gruppengespräche sind für mich die schwierigsten, weswegen ich mich, wann es immer geht, zurückhalte und zuhöre. So viel weiß ich über die anderen und doch kenne ich keinen von ihnen.
Ich bin etwas zu spät dran und die letzte, die den Raum betritt. "Hallo", murmle ich, ohne jemandem in die Augen zu sehen. "Tut mir leid."
"Kein Ding", antwortet Doktor Tibos freundlich. Er sieht nicht so aus, als wäre er ein Psychologe. Mit seinen roten Haaren, den blauen Augen und den vielen Sommersprossen auf seinem Gesicht könnte er ein Zirkusclown sein, der den Kindern Luftballons zusammenknotet. Man sieht es ihm nicht an, aber tatsächlich kann dieser dauergrinsende Mann sehr ernst sein, wenn es denn die Situation erfordert. Gerade lächelt er noch, was ich mit einem kurzen Blick in seine Augen feststelle. Ich nicke und stemme mich auf den letzten freien Platz, während ich mich unangenehm beobachtet fühle.
"Dann können wir anfangen", kündigt Doktor Tibos grinsend an. "Wir haben heute jemand Neues, der sich jetzt erstmal vorstellen muss."
Ich erinnere mich gut daran, wie ich mich hier vorstellen musste. Damals konnte ich niemandem in die Augen schauen. Langsam habe ich meinen Namen und mein Alter aus meinem Mund gepresst und bin dann schnell wieder in den Hintergrund gefahren, während mir schwindelig geworden ist. Die restliche Stunde über habe ich mich kein Mal getraut, den Blick von meinen, damals noch sehr dünnen, Beinen zu heben.
"Hallo", sagt jemand mit ungewohnt fester Stimme. Überrascht schaue ich auf. Das kann doch nicht sein!

1524 Wörter, 09.10.2016

Ok, neues Kapitel und neues Cover, tadaa :D Besser?
So langsam fängt die Geschichte richtig an. Wie findet ihr es? Ich bräuchte echt Tipps und Verbesserungsvorschläge, da es meine erste Geschichte ist.
Dankeschön :)
_ThatGirl99_
PS: Schöne Ferien, falls ihr schon Ferien habt... Hab seit gestern Ferien und chill in Griechenland :D

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