##019##

198 9 6
                                    

Als meine Eltern erneut kommen, beichte ich ihnen im Beisein von Doktor die Vergewaltigung. Diesmal werfen sie mir nicht vor, dass ich es ihnen nicht gesagt hatte. Sie fangen wieder an zu weinen und drücken mich feste an sich. Ich lasse das alles über mich ergehen, während mir vor schlechtem Gewissen übel wird. Sie würden nicht weinen, wenn meine Mutter abgetrieben hätte oder wenn sie sich dazu entschlossen hätten, mich als kleines Kind umzubringen. Mir wäre wahrscheinlich viel Leid erspart geblieben. 
Nach ein paar Sekunden löse ich mich langsam aus der Umklammerung meiner Eltern. "Ich bring dieses Schwein um!", droht mein Vater aufgebracht und beinahe hysterisch. "Ich bring ihn um!" 

"Beruhigen Sie sich!", ruft Doktor Schäfer mit erhobener Stimme. Es ist genau die gleiche Stimme, mit der er mich immer beruhigen möchte, wenn ich kurz vor einem Selbstmord stehe. "Wenn Hanna ihn nicht umbringen will, dann sollten Sie das auch nicht wollen!"
"Ich bring ihn um!", wiederholt mein Vater bedrohlich und steht hastig auf. Er schlägt mit seiner rechten Hand auf den Tisch und ich zucke erschrocken zusammen. 
"Setzen Sie sich hin!", fordert Doktor Schäfer und steht ebenfalls auf. Mein Vater sinkt auf einen Stuhl und bricht zusammen. Noch nie habe ich so bildlich gesehen, wie jemand zusammengebrochen ist wie jetzt. Er lässt alle Spannung aus seinem Körper weichen und lässt seinen Tränen freien Lauf. "Dieses Schwein!", flüstert er verzweifelt. "Er hat meine Tochter vergewaltigt. Er hat sie vergewaltigt! Dieses Schwein!" 
"Ich halte das nicht aus", flüstere ich, immer noch ohne zu weinen. Der Schmerz, den ich gerade empfinde, sitzt so tief, dass keine Träne der Welt ihn erreichen könnte. Er scheint mich innerlich aufzufressen, aber zeigen kann ich ihn nicht.
"Es tut mir leid", sage ich deswegen seltsam kühl nach einem Moment. "Aber wir waren in einer Klasse und ich hatte keine Beweise. Es hätte keiner was gesagt."
"Es waren andere Leute dabei?", meldet sich meine Mutter nun entsetzt zu Wort. Eigentlich wollte ich nicht mehr darüber sagen als die Tatsache, dass es passiert ist, aber meine Mutter möchte offensichtlich darüber reden. Ich nicke also vorsichtig.
"Und dir hat keiner geholfen?", will sie fassungslos von mir wissen. "Du hast mir auch nie geholfen!", flüstere ich ohne nachzudenken und wünsche mir im gleichen Moment, ich hätte nichts gesagt. Auf einmal herrscht eine eisige Stille in diesem Raum, die sich auch auf die Temperatur niederschlägt. Bei auf einmal minus zehn Grad fange ich an zu zittern. Jeder schweigt schockiert, keiner traut es sich, irgendwie zu bewegen. Bis ich es schließlich nicht mehr aushalte. "Stimmt doch", flüstere ich.
"Wir wussten das nicht, Hanna", flüstert meine Mutter fassungslos. "Wie kannst du so was sagen?"
"Vergiss es", erwidere ich beschämt. "Ich wollte das nicht sagen, es tut mir leid."
"Nein, das würde mich auch interessieren", wirft nun Doktor Schäfer ein. "Ist das Ihr Ernst?", frage ich wütend. Wie kann er mir derart in den Rücken fallen? Ich habe ihm sogar schon gesagt, dass meine Eltern das wussten und er hat mir zugestimmt.
"Du musst ehrlich mit deinen Eltern sein, das weißt du! Sie übrigens auch", fügt er hinzu und wendet sich an meine Eltern. "Sie müssen jetzt zusammenhalten! Verstehen Sie das nicht? Hanna braucht Sie und Sie verhalten sich nicht entsprechend!" Er wirkt fast wütend auf meine Eltern. Wahrscheinlich hätte er von erwachsenden Menschen etwas anderes erwartet.
"Ihr wusstet es!", sage ich, um einen Anfang zu machen. Doktor Schäfer hat Recht, ich möchte nicht auch noch Stress mit meinen Eltern haben. "Ich war doch dauernd grün und blau am ganzen Körper! Und Mama, du hast das gesehen, zu hundert Prozent!" Ich schaue die beiden an und beobachte für einen kurzen Moment einfach nur ihre Reaktion. Mein Vater schaut meine Mutter in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und schlechtem Gewissen an, während sie ihren Kopf senkt und sich nicht traut, jemanden anzusehen oder auch nur den Kopf zu heben.
"Jetzt hört gefälligst auf zu flennen!", fordere ich wütend. Das alles ist mir passiert und nicht ihnen. Sie sind meine Eltern und sollten stärker sein als ihre sechszehnjährige Tochter.
"Hör auf, so zu reden!", schnieft meine Mutter. "Du hättest auch einfach auf uns zu gehen können."
"Hallo, in der fünften Klasse wurde ich das erste Mal zusammengeschlagen! Da war ich neun, ich war komplett überfordert!"
"Und danach? Mit zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn oder sechszehn? Warst du da auch überfordert?", fragt mein Vater und wischt sich über die Augen. Wenigstens er scheint zu verstehen, dass diese Heulerei total unangemessen ist. "Ich wollte euch das nicht sagen", gebe ich zu. "Ich wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht und alles verschlimmert." Dieses Gespräch ist doch absurd. Natürlich müssen meine Eltern und ich zusammenhalten, aber das alles ist erst so katastrophal, seitdem ich die Wahrheit gesagt habe. "Doktor Schäfer, das ist doch dumm! Wollt ihr die Wahrheit hören?" Aus irgendeinem Grund bin ich so wütend, dass ich unkontrolliert anfange zu reden. "Ich wurde vergewaltigt und meine ganze Klasse hat zugeguckt und das gefilmt. Ich bin nie gegen eine Tür gelaufen, hab nie mein Handy verloren und ach ja, ich bin nie einfach so aus diesem Fenster gestürzt. Da hättet ihr von selbst drauf kommen können, oder? Und ich habe euch nie was gesagt, weil ihr alles nur verschlimmert hättet! Ich hab es meiner verfickten Klassenlehrerin gesagt, als ich in der sechsten Klasse war, aber sie hat mir nicht geglaubt! Ich hab bestimmt vier oder fünf Mal versucht, mir das Leben zu nehmen, will einfach nur verecken und die Abtreibung zu Ende führen, die ihr nicht durchgeführt habt! Was habt ihr nur...?"
"Hanna, hör auf zu reden!", unterbricht mich Doktor Schäfer laut. Er scheint zu befürchten, dass meine Eltern mir eine reinhauen. Wenn man sich sie so anguckt, ist diese Befürchtung durchaus gerechtfertigt.
"Sie wollten, dass ich mich öffne und das hab ich jetzt getan", verteidige ich mich eisig. Natürlich meinte er es nicht so, wie ich es darstelle, aber ich weiß nicht, warum ich das alles gesagt habe. 
"Hanna!", flüstert mein Vater fassungslos. "Lass mich, ok?", entgegne ich eisig. "Ihr könnt mich alle mal. Grüßt Patrick von mir." Mit diesen Worten möchte ich den Raum verlassen. Meine Eltern möchten bestimmt einiges mit Doktor Schäfer besprechen und ich möchte nicht dabei sein, während sie so drauf sind. Also richte ich mich mit unterdrückten Schmerzen auf und humple langsam in Richtung Tür. Eine Schweißperle rinnt meine Stirn herab, aber ich erlaube mir nicht, anzuhalten.
Kaum bin ich aus der Tür raus, kommt Doktor Schäfer mir hinterher. "Eine Sekunde Hanna!", bittet er mich ruhig. "Bist du in Ordnung?"
"Reden Sie einfach mit meinen Eltern. Ich komme klar, aber ich kann gerade nicht reden." Vor Anstrengung bin ich tatsächlich nicht mehr großartig in der Lage zu reden.
"Versprichst du mir, zu Doktor Tibos oder zu mir zu gehen, wenn irgendetwas ist?"
Ich nicke. "Bitte sagen Sie meinen Eltern, dass Sie mich nicht hassen sollen. Ich wollte sie nie verletzen, das müssen Sie mir glauben!"
"Ich schaue, was ich tun kann. Jetzt setz dich hin, du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenbrechen."
"Mir gehts gut!", wehre ich ab und ignoriere den aufkommenden Schwindel eisern. "Gehen Sie einfach zurück zu meinen Eltern. Sonst machen die noch irgendwas, was sie nicht tun sollten."
"Darüber reden wir noch!"
Ich hätte nichts anderes erwartet.

29.11.2016, 1197 Wörter

Hi :) Es kommt wieder ein neues Kapitel. Hoffe, es hat euch gefallen, wie immer :D

Cannot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt