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Als schließlich Carina kommt, würde ich meine Faust am liebsten in ihrem Gesicht versenken, damit sie versteht, dass sie gerade total unpassend erscheint. Manchmal muss man einfach alleine sein, aber genau dann kommt sie immer wieder.
"Was ist denn mit dir los?", fragt sie ahnungslos, als sie meinen wütenden Blick registriert. "Hast du gerade geschlafen? Hab ich dich aufgeweckt?"
"Lass mich einfach", entwidere ich aus irgendeinem Grund unglaublich wütend und mit lauter Stimme. "Checkst du nicht, dass du mir unglaublich auf die Nerven gehst? Laber einfach die scheiß Psychologen zu und halt die Fresse, wenn du hier bist!"
Prompt füllen sich ihre Augen mit Tränen. Ihr Mund steht einen Spalt breit offen, offensichtlich ist sie schockiert. Zitternd geht sie aus unserem Raum raus, ohne sich von mir wegzudrehen. Ups. Jetzt wird sie sich wahrscheinlich bei ihren Freunden ausheulen oder zu den Psychologen gehen. Ich sollte ein schlechtes Gewissen haben, aber auf einmal ist mir das nur vollkommen egal. Das ganze letzte halbe Jahr habe ich keinen Ton zu ihr gesagt, obwohl sie mir den letzten Nerv geraubt hat. Dass ich jetzt einmal etwas gesagt habe, wird schon nicht so schlimm sein. 
Sie kommt erst zwei Stunden später wieder, ihr Gesicht ist verquollen. Ich stelle mich schlafend, das anscheinend ziemlich glaubwürdig. "Dich mag hier eh niemand", raunt sie wütend in meine Richtung. Anhand ihrer Stimme zu urteilen, hat sie eindeutig geweint. "Iss doch noch weniger, dann wärst du immerhin nicht mehr da! Dich würde hier eh keiner vermissen! Das fucking Mobbing war nur gerechtfertigt!" Dann legt sie sich in ihr Bett und schläft augenblicklich ein. 

Das Mobbing war gerechtfertigt? Es war also wirklich gerechtfertigt, dass ich ein Krüppel bin? Denken das etwa alle hier? Dass es gerechtfertigt war, dass ich so bin? Diese Erinnerungen habe? Das erlebt habe?
Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, vergrabe ich mein Gesicht in das Kopfkissen, um mit meinem Schluchzen niemanden aufzuwecken. Das alles darf nicht gerechtfertigt sein, es war so grausam. 
Carinas Worte treffen mich viel härter als ich erwartet habe. Bisher hat hier drinnen nie jemand zu irgendjemanden gesagt, dass derjenige verdient hätte, was ihm angetan wurde, sei es nun Vergewaltigung oder Missbrauch. Mir wäre nie im Entferntesten in den Sinn gekommen, dass das hier bei irgendjemandem gerechtfertigt gewesen sei. Warum denkt sie das von mir? Hasst sie mich so sehr, dass sie mir das alles gewünscht hat? Nur, weil jetzt diese eine Sache zu ihr gesagt habe?

Am nächsten Morgen, ich habe keine Sekunde geschlafen, bin ich schon längst angezogen, als sich Carina aus ihren süßen Träumen quält. Wir beide sagen kein Wort, während sie ihre Klamotten wechselt. Sie weiß gar nicht, dass ich gehört habe, was sie über mich gesagt hat. Wahrscheinlich erwartet sie von mir, dass ich mich für das entschuldige, was ich gestern laut ausgesprochen habe. Wenn ich wirklich geschlafen hätte, dann hätte ich das wahrscheinlich auch getan, aber nun denke ich keine Sekunde daran. Sie hat nach ihren Worten keine Entschuldigung verdient. Also sitze ich schweigend auf meinem Bett und denke über das alles nach, während sich meine Zimmernachbarin fertig macht.
Immerhin habe ich ihr das, was ich ihr zu sagen hatte, direkt ins Gesicht gesagt. Zugegebenermaßen war es nicht nett von mir, aber jeder kann mal einen schlechten Tag haben. Sie hingegen hat es gesagt, als sie dachte, ich würde schlafen. Das ist hinterhältig und gemein. So etwas sagt man einfach nicht, wenn man denkt, dass der andere nichts darauf erwidern kann. So etwas sollte man generell nie sagen. 

Es klopft an der Tür, kurz nachdem Carina fertig ihr T-Shirt angezogen hat. Sie öffnet sie kommentarlos. In Erwartung, wieder eine ihrer Freundinnen vorzufinden, mit denen sie regelmäßig zum Frühstück geht, ignoriere ich es einfach, genauso wie sie mich den ganzen Morgen ignoriert hat.
"Hallo, Hanna." Von der Stimme aufgeschreckt blicke ich hoch. Tatsächlich steht Johannes vor mir. Mit seinem schwarzen T-Shirt sieht er viel schlanker und muskulöser aus als gewöhnlich, was nicht gerade dazu beiträgt, die Angst, die ich gerade verspüre, zu lindern. Ich selbst habe, wie gewöhnlich, einen dicken Pullover an, der meine Arme verdeckt und etwas dagegen hilft, dass ich ständig friere. Was will er hier? 
"Willst du mit ihr reden? Dann gehe ich raus. Ich will euch nicht stören", murmelt Carina schüchtern. In diesem Moment kann ich nicht beurteilen, ob sie mich ihm absichtlich ausliefert oder ob sie ihren Gegenüber einfach nur attraktiv findet und ihr das peinlich ist. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, ob ich ihr jemals gesagt habe, dass Johannes und mich eine gewisse Vergangenheit verbindet.
"Bitte bleib hier", bitte ich sie mit verzweifeltem Unterton in der Stimme.
"Ach, jetzt brauchst du mich?", erwidert sie zickig. "Bitte", sage ich erneut und blicke für einen Moment in Johannes Richtung. Er hat seinen Arme verschränkt und blickt gelassen auf uns beide. Als ich mich eingeschüchtert Carina zuwende, scheinen mich ihre Augen töten zu wollen. Innerlich flehe ich sie an, mich jetzt nicht hier alleine zu lassen. Die Spannung steigt in mir, während ich ängstlich darauf warte, wie Carina reagieren wird. Bitte, Carina, bitte! Sie soll verstehen, dass sie mich nicht alleine lassen kann! Bitte! "Fick dich, Hanna", sagt Carina nach einigen Sekunden gelassen und geht schnell aus unserem Zimmer raus.
Für einen Moment schaue ich die geschlossene Tür nur sprachlos an, bevor ich Carina hinterher rollen möchte, um nicht nur mit Johannes in einem Raum sein zu müssen. Mein Rollstuhl steht neben meinem Bett, so wie immer, also möchte ich mich in ihn setzen. Hauptsache möglichst schnell weg von hier, und sei es nicht laufend. Die Demütigung des Rollstuhls ist mir gerade vollkommen gleichgültig.
Mit einer kleinen Handbewegung schiebt Johannes meine Fluchtmöglichkeit zwei Meter von meinen Bett weg, nun in unerreichbarer Entfernung für mich. Dann setzt er sich neben mich und legt seinen Arm um meine Schulter. Nun auf einmal äußerst panisch geworden, frage ich Johannes mit zitternder Stimme, während ich vergeblich versuche, ihn von mir fern zu halten: "Warum bist du hier? Willst du dich an einem Krüppel vergehen? Du hast mir schon alles genommen, was ich habe!" Es tut weh, das zu sagen, es tut unglaublich weh. Vielleicht steckt aber noch so viel Mensch in ihm, dass ich ihn damit berühren kann und er mir nicht erneut weh tut.
"Wenn du schreist, dann bring ich dich um, Fetti", flüstert er bedrohlich. Wie kann man so ein Monster sein? In diesem Moment glaube ich ihm, aber ich wäre lieber tot als nochmal vergewaltigt. Das halte ich nicht nochmal aus. Ich konnte es schon das erste Mal kaum ertragen. "Hilfe!", brülle ich so laut wie ich kann. "Hilfe!"
"Es ist jeder beim Frühstück", grinst Johannes und versucht mir mit Gewalt meine Klamotten auszuziehen. Ich versuche mich verzweifelt dagegen zu wehren. Er ist aber viel stärker als ich. "Hilfe!", schreie ich zitternd. Carina müsste mich doch noch hören, sie ist doch erst vor einer halben Minute aus dem Zimmer gegangen. Warum kommt sie nicht zurück? Wo ist denn jeder? Ich brauche Hilfe, ich kann das nicht alleine. Nicht dieses Mal.
Fieberhaft blicke ich mich um und hoffe, hier irgendwelche Möglichkeiten zu finden, durch die ich doch noch aus dieser Situation herauskommen kann. Außer dem Mobiliar, meinem Rollstuhl und den Krücken befindet sich nichts in dem Zimmer und nichts davon ist in erreichbarer Nähe. Es gibt keine Chance, von meinem Bett herunterzukommen, ich sitze Johannes ausgeliefert in der Falle. 
Als er feste an meinem Pullover reist, zieht er ihn mir schließlich aus. Seine Augen scheinen mich zu verschlingen, als er sich genüsslich meinen entblößten Körper anschaut. "Lass mich!", fordere ich Johannes mit zitternder Stimme und verdecke meinen mit Narben übersäten Oberkörper panisch. Er steht auf und setzt sich auf mich drauf, die Knie jeweils neben meinen Beinen, mir das Gesicht zugewendet. Wären meine Beine nicht fast vollständig gelähmt, würde mir diese Pose Schmerzen bereiten. So spüre ich es kaum. Ich wäre niemals in diese Situation gekommen, wären meine Beine nicht so nutzlos.
"Hörst du mir jetzt zu, Fetti?", fragt er und kommt mir so nahe, dass ich gezwungen bin, die gleiche Luft einzuatmen wie er. Mein Herz schlägt panisch und ehe ich mich versehe, schubse ich ihn von mir runter. Es war keine bewusste Bewegung, eher ein Reflex, ausgelöst durch meine panische Angst. Ein unglücklicher Schachzug, wie es sich im Nachhinein hinausstellt.
Zuerst landet er überraschenderweise auf dem Boden. Wer hätte gedacht, dass eine Magersüchtige über eine derartige Kraft verfügt? Er hat es wahrscheinlich nicht gedacht, sonst hätte er mehr Widerstand geleistet und wäre nicht auf den Boden gefallen. Als er sich überrascht aufrappelt, gibt er mir eine feste Ohrfeige. So feste, dass ich für einen Moment nur verschwommen sehe. Der Schmerz kommt mir sehr viel stärker vor als ich es in Erinnerung habe. Mein Herz scheint dreifach so schnell zu schlagen wie sonst. Je länger ich mit ihm zusammen bin, desto größer ist meine Angst, dass er mir was schlimmes antut.

"Lass mich in Ruhe!", flüstere ich. Seine Faust landet auf meiner Nase, aus der sofort Blust spritzt. Ich wimmere vor Schmerzen und halte meine rechte Hand sofort schützend vor mein Gesicht. Der Schmerz ist unglaublich stark, er raubt mir den Atem und lässt mich alles andere vergessen.
"Bring mich einfach um!", flüstere ich und meine es vollkommen ernst. Er soll mich einfach töten, ich will nicht mehr gegen ihn oder gegen jemand anderen ankämpfen. Dann wäre immerhin der Schmerz betäubt, der mich gerade zu überwältigen droht.

Noch bevor Johannes darauf etwas erwidern kann, klopft es an der Tür. "Hanna, kann ich reinkommen? Du bist schon wieder nicht zum Essen erschienen." Ein Stein in der Größe des Mount Everests fällt mir vom Herzen, als ich die Stimme von Doktor Schäfer erkenne. Mein Blick landet unwillkürlich bei Johannes, der vor Schreck erstarrt wirkt. Ich traue mich nicht, etwas darauf zu erwidern, da ich Angst habe, dass Johannes mir noch etwas antut.
Als Doktor Schäfer schließlich von selbst meine Zimmertür öffnet, scheint er für einen Moment überrascht. Die Situation muss bizarr auf ihn wirken. Ich, halbnackt, sitze gefangen auf meinem Bett, das mittlerweile blutverschmiert ist. Neben mir sitzt der Junge, der mich vor einigen Jahren vergewaltigt hat. Bizarrer geht es wohl kaum mehr.

"Johannes, sofort raus hier!", weist Doktor Schäfer ihn an, nachdem er seine Schockstarre überwunden hat. "Sofort. Raus. Hier!"
Vier Erleichterung fließen Tränen mein Gesicht herunter, als Johannes die Tür hinter sich geschlossen hat. "Komm mit!", flüstert Doktor Schäfer leise, gibt mir seine Jacke, die er aus irgendeinem Grund noch anhatte, hilft mir beim Anziehen, trägt mich in den Rollstuhl und schiebt mich in Richtung eines Raums.
Am Krankenzimmer angekommen, ist mir vor Schmerzen bereits schlecht geworden.

1745 Wörter, 22.12.2016
Frohe Weihnachten euch allen :) Ich würde mich freuen, wenn ihr mal schreiben könntet, was ich verbessern könnte.

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