Kapitel 6

78 5 2
                                    

Wie sich herausstellte hätten wir noch ein paar Stunden auf dieser verflixten Bank sitzen und uns traurige, kranke Geschichten erzählen können, denn als wir bei der Friedhofsverwaltung ankamen, blickte uns nur ein Zettel entgegen, der uns mitteilte, man müsste vorher anrufen und einen Termin ausmachen, wenn man etwas zu einem bestimmten Grab wissen wollte. Darunter stand die Telefonnummer und ein "Wir bedanken uns für ihr Verständnis". Welches Verständnis? >Und was machen wir jetzt?<, wollte Lilia wissen. Sie stand hinter mir und rieb sich schon seit geraumer Zeit über die Arme.

>Ist dir kalt?<, fragte ich schuldbewusst, ohne zu bemerken, dass ich ihre eigene Frage dabei komplett überging.

>Es geht schon<, meinte sie und verdrehte dabei die Augen. >Und jetzt beantworte mir meine Frage< Ich seufzte. Tatsache war, dass ich es selbst nicht wusste. All meine Überlegungen bestanden daraus, dass wir die Wohnadresse von Ellen Niels erfuhren. Für den Fall, dass wir dieses Ziel nicht am ersten Tag erreichten, hatte ich keine Vorrichtungen getroffen. Denk nach. Wie könntest du noch an die Adresse von Ellen kommen? Ich hatte nichts außer ihren Namen und ein ungefähres Alter. Die Stadt war nicht klein genug um einfach herum zu fragen, um irgendwann auf meine Großtante zu treffen. Nein, es musste einen einfacheren, schnelleren Weg geben... Da kam mir eine Idee. Ich wurde geboren, ohne dass jemand von den Magiern das mitbekam, was bedeutete, ich wurde in keinem Krankenhaus zur Welt gebracht. Das hätte Socrate zuerst überprüft, nachdem er mich nicht zu fassen bekommen und meinen Vater umgebracht hatte. Außerdem existierte kein Hinweis darüber, wer meine Mutter gewesen war, keine Geburtsurkunde, keine Krankenhausakte. Folglich musste es eine Hausgeburt ohne dafür ausgebildetes Personal gewesen sein. Hinzu kam noch, dass Socrate meinte, meine Eltern seien von einem Besuch bei Ellen nicht wieder zurückgekommen. Also war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich nicht nur in Ellens Beisein geboren wurde, sondern diese meine Mutter sogar ziemlich gut kannte. Vielleicht... 

>Komm, lass uns gehen<, meinte ich und drehte mich um, ohne noch etwas zu sagen. Ich setzte mich in Bewegung, was Lilia mir sofort gleichtat.

>Wohin?<, fragte sie.

>Zum Grab meiner restlichen Familie<

***

Der Friedhof war klein und mir keinesfalls unbekannt. Es sah genauso aus, wie in der Erinnerung, die Gregory in mir hervorgerufen hatte. Nur ohne den Schnee. Alles andere hatte sich in den letzten acht Jahren nicht groß verändert, nur ein paar Gräber waren hinzugekommen, Pflanzen waren ersetzt worden, ansonsten war alles gleich. Nur meine eigenen Emotionen und Gedanken waren komplett anders. Während ich als kleines Kind nur darüber nachgedacht hatte, wie gern ich diesen Friedhof, einen Ort des Trauerns, zeichnen wollte, war meine gesamte Stimmung nun kalt und düster. Als hätte ich mich meiner Umgebung angepasst. Schon als Lilia und ich den Boden des Friedhofs betraten, machte sich in mir eine emotionslose Stille breit. Sie schien mich nach unten zu ziehen, mich daran hindern zu wollen, das Grab meiner Familie zu erreichen. Ich wusste nicht, was mich dort erwarten würde. Schließlich kannte ich weder meine Mutter noch meine Geschwister. Ich hatte kein Bild von ihnen vor Augen, keine Erinnerungen an sie, einfach nichts. Was würde ich also fühlen, wenn ich mit dem Bewusstsein, wer sie waren, wieder vor ihren Gräbern stehen würde? Ich wusste es nicht. Und diese Unwissenheit blieb selbst dann noch, als ich sie erreicht hatte.

Jesse Niels, Leana Niels, Elena Niels... Mein Bruder, meine Mutter und meine Schwester. Personen, die ich niemals kennenlernen würde. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Trauer? Wut? Tatsache war, dass ich gar nichts fühlte. Dafür jagten meine Gedanken jedoch quer durch mein Gehirn, als würden sie Fangen spielen. Allerdings hatten diese absolut gar nichts mit den Gräbern vor mir zu tun. Wie zur Hölle bin ich auf die Idee gekommen, hier einen Hinweis auf den Aufenthaltsort von Ellen zu finden? Hier sind doch nur Gräber, Leichen und Sand... nichts weiteres, nichts was auf Ellen auch nur ansatzweise deuten würde. >Ist alles okay?<, fragte Lilia mich, woraufhin ich sie ansah. Keine Ahnung, was sie von mir erwartete. Ihrem Blick zufolge hatte sie mit einem ähnlichen emotionalen Zusammenbruch wie bei dem Grab meines Vaters gerechnet. Da musste ich sie allerdings enttäuschen. Ich war mit den logistischen Problemen beschäftigt, die emotionalen konnten warten.

>Ja, alles gut<, antwortete ich ihr und ließ dabei meinen Blick über das Areal schweifen. Die anderen Grabstellen machten nicht den Eindruck, als würde hier oft jemand vorbeikommen. Das ganze Gelände wirkte einsam und verlassen. Verwahrlost. Das ist wohl ein passender Begriff für diese trostlose Gegend. Als würden hier nur die Leute begraben werden, an die sich sowieso niemand mehr erinnern würde. >Lass uns eine Bleibe für die Nacht suchen. Heute werden wir Ellen wohl nicht mehr finden<, meinte ich schließlich und wollte mich schon in Bewegung setzen, als Lilia mich an meinem Jackenärmel festhielt. >Was ist?<

>Die Frau da drüben<, sie nickte in die entgegengesetzte Richtung in die ich gehen wollte. >Vielleicht weiß sie ja etwas< Ich folgte ihrem Blick und entdeckte dabei eine alte Frau, die sich gerade zu einem der Gräber herunterbeugte. Sie schien Blumen oder ähnliches auf den Boden zu legen.

>Denkst du?<, fragte ich Lilia nicht ganz überzeugt. Die Frau sah aus der Ferne ganz normal aus. Ein beiger Mantel, weiße Haare, helle Handschuhe, dunkle Hosen. Insgesamt schien sie auch eher klein zu sein.  

>Fragen kostet nichts<, meinte sie mit einem Lächeln in meine Richtung. Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, setzte sie sich auch schon in Bewegung. Mir blieb daher nichts anderes übrig als ihr zu folgen. >Verzeihung, Miss?< Die alte Frau sah erschrocken auf, fing dann jedoch an zu lächeln, als sie uns beide entdeckte.

>Ja, bitte?<, antwortete sie und richtete sich auf. Dabei strich sie sich ihre Haare hinter ein Ohr. Ich behielt recht, sie war wirklich klein. >Was kann ich für euch beide tun?<

>Wir würden gerne wissen, wer sich um die drei Gräber dort hinten kümmert< Sie zeigte auf die Gräber meiner Familie und beobachtete dabei, wie der Blick der Frau ihrem Fingerzeig folgte.

>Seit ihr Verwandte von den Niels?<

>Woher wissen sie so genau, dass diese Gräber den Niels gehören?<, fragte ich misstrauisch, was dafür sorgte, dass ihr Blick weiter zu mir glitt. Ich bemühte mich darum, keine Reaktion zu zeigen, doch die Augen dieser Frau, kamen mir vertraut vor. Sie waren braun, also kein besonders seltene Augenfarbe, dennoch hatte ich das Gefühl gerade dieses Augenpaar zu kennen. Als sie antwortete, durchfuhr mich die Erkenntnis.

>Ich kümmere mich um diese Gräber< Sie hatte dieselben Augen wie mein Vater.

 

 

Die Magier - Der König (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt