Ich erfuhr erst mal nichts weiter von der Beziehung meiner Eltern. Dafür wurde mir jedoch mit jeder weiteren Seite, die ich umblätterte, klar, wie wichtig es für meinen Vater war, jemanden um sich zu haben. Ich merkte, wie er in seinen Worten etwas an Einsamkeit einbüßte. Merkte, wie er immer enthusiastischer wurde, mit jedem neuen Tag, den er mit Reginald zusammen verbrachte. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Reginald für Lucas schon längst zur Familie gehörte. Dass er wie ein Bruder für meinen Dad war. Umso mehr schmerzte es, den Eintrag zu lesen, in dem zum ersten Mal seit gefühlten Wochen wieder einmal die Rede von Socrate war.
„Wie kann man nur so bösartig sein? Wie? Ist es denn so schwer zu erkennen, dass Reggie nicht nach Hause wollte? Dass er nicht zu seinem Vater zurück wollte? Konnte der Junge denn nicht wenigstens ein Mal in seinem Leben eine eigene Entscheidung treffen?
Ich meine, mir war ja bewusst gewesen, dass es nicht ewig so weiter gehen konnte. Auch ohne Jonathan, der jedes Mal versucht hatte, auf mich einzureden, dass ich Reggie zurückschicken müsste. Aber ich konnte einfach nicht und ehrlich gesagt wollte ich es auch nicht. Wozu auch? Um mit anzusehen wie man ihn weiter wie ein nichtsnutziges Tier behandelte? Sicher nicht. Aber mich zwingen, ja das konnten sie leider. Ich bin immerhin kein Verwandter. Ich habe nicht das Recht dazu, Eltern ihr Kind vorzuenthalten, vollkommen egal wie schlecht es dort auch behandelt werden würde. Ich kann den Kleinen nicht schützen. Nicht vor Socrates Gemeinheiten, der Ablehnung seiner Familie oder der Ignoranz seiner Geschwister. Ich kann es einfach nicht, so sehr ich es auch mir wünsche.
Ich sehe ihn fast gar nicht mehr. Der Kontakt wurde uns immerhin untersagt. Zwar erst nach fast einem halben Jahr, aber dennoch. Vermutlich hat Socrate es einfach nur mit der Angst gekriegt, als er bemerkte, dass ich mein Vorhaben das Feuer-Element zu erlernen wirklich ernst meine. Vielleicht fühlt er sich von mir bedroht. Und deshalb nahm er mir seinen Sohn weg, in der Hoffnung, ich würde klein beigeben. Als würden solche Spielchen bei mir auf fruchtbaren Boden treffen. Ich bin nicht dumm, nicht aufbrausend oder gar impulsiv. Ich weiß, wann man sich am besten zurückhält, um sich zu sammeln. Und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es kein befriedigendes Gefühl war, als Leana Sleight bei meinem heutigen Test registrierte, welche Elemente ich noch erlernen könnte. Ihr fassungsloser Blick, als ich laut und stark verkündete, ich würde das Feuer erlernen, wozu ich laut dem Test berechtigt bin, brennt selbst jetzt noch in meinen Gedanken. Vielleicht würde es ihr einen Denkanstoß geben, wenn ihr auffiel, dass sie nun nicht mehr die Einzige ist, die das Feuer zurück bringen kann. Ich hoffe so sehr, dass sie Reggie irgendwann helfen wird. Denn im Gegensatz zu mir, hat sie den lieben langen Tag Zeit dafür."
Ich konnte ahnen, worum es in den nächsten Einträgen gehen würde. Um seine Ausbildung. Seine Lernzeit. Das Schreiben seines Buches. Ich konnte mir geradezu bildlich vorstellen wie er zwischen den Regalen in der hauseigenen Bibliothek der Niels umher streunte, mal hier mal da ein Buch herauszog und danach stundenlang grübelnd damit seine Zeit auf den Boden verbrachte, so wie ich es gerade mit seinen Aufzeichnungen tat.
Ganz plötzlich überfiel mich das Bedürfnis, diese Seiten zu überspringen. Ich wollte nicht wissen, wie leicht oder schwer es ihm fiel. Ich wollte nicht wissen, ob er wirklich wie in meinen Gedanken im Schneidersitz an derselben Stelle wie ich gesessen hatte. Ich wollte nicht wissen, ob es ihn frustrierte. Ob es ihm leicht fiel. Ob er Reginald darüber hinaus vergessen hatte. Oder noch immer darunter litt, keinen Kontakt mit ihm haben zu dürfen.
Ich wusste nicht wirklich, woher dieser Impuls kam. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht einen einzigen Eintrag übersprungen oder gar nur überflogen. Es fühlte sich wie Verrat an, nicht alles zu lesen. Aber es war mir unerträglich, auch nur einen winzigen Moment lang in seinen Gedanken rund um das Feuer-Element zu versinken, gerade deshalb weil ich das Gefühl hatte, es würde mich so aufwühlen , dass ich die ganze Bibliothek in Brand steckte. Deshalb beschloss ich, die nächsten Einträge über einfach weiter zu blättern. Ich werde sie ein anderes Mal lesen, versprochen. Ich hab immerhin demnächst mehr als genug Zeit dafür.
Kaum hatten sich diese Gedanken in meinem Kopf geschlichen, breitete sich pure Ernüchterung in mir aus. Wieder einmal rief ich mir vor Augen, dass ich vermutlich mein gesamtes restliches Leben hier verbringen würde, vollkommen allein, wenn man mal von Richard absah. Seufzend fokussierte ich meinen Blick, der für eine kurze Sekunde nach draußen in den kalten, blauen Himmel gerichtet gewesen war, wieder auf das Buch, das vor mir lag. Gerade im richtigen Moment, wie ich dann feststellen durfte.
„Man könnte meinen, ich würde nun besseres zu tun haben, als meine sieben Sachen zu packen und zu verschwinden, wo ich doch endlich achtzehn bin und das Studium des Feuer-Elements erfolgreich für beendet erklären kann. Habe ich aber ehrlich gesagt nicht. Es war immerhin niemals ein Wettkampf gewesen. Nicht für mich zumindest. Und natürlich tut es mir leid, sowohl Reggie als auch Jonathan hier zurück zu lassen, aber ich habe es so satt. Die ganzen Blicke, die auf einen liegen, als würde man in den nächsten paar Sekunden etwas unglaubliches vollbringen. Diese ganzen subtilen Andeutungen, die mir eigentlich alle nur eines sagen wollten: nämlich eine Frau zu finden und weitere Magier, am besten noch mit angeborenen Feuer-Element in die Welt zu setzen. Als wären wir alle nur irgendwelche Brutmaschinen.
Nein, ich werde meinen Plan nicht aufgeben. Den Antrag habe ich immerhin schon lange abgegeben und bewilligt wurde er auch schon. Ganz mal davon abgesehen, dass ich bereits die Hochzeit meiner Cousine Mira verpasst habe, weil ich das Heim des Königs nicht verlassen durfte. Da würde ich doch nicht auch noch freiwillig darauf verzichten, sie wenigstens mit zum Flughafen begleiten, um sie und ihren Mann in die Flitterwochen zu verabschieden. Also bitte. Allmählich müsste man hier doch wohl wissen, wie viel ich auf die Meinung von den anderen Oberhäupter gebe. Nämlich gar nichts. Aber bitte, wenn sie meinen, sich überall einmischen zu müssen, sollen sie doch. Aber nicht mit mir. Das hier war ein für allemal der letzte Tag in diesem ach so schönen Gefängnis."
Es war der letzte Eintrag im Buch Nummer 19.
DU LIEST GERADE
Die Magier - Der König (pausiert)
FantasíaNachdem Lilia Will aus der Gefangenschaft Socrates befreite und zurück in die Stadt, in der er lebte, gebracht hatte, wird Will von Albträumen und Stimmen in seinem Kopf geplagt. Doch damit nicht genug, zusammen mit Lilia ist er auf der Flucht vor S...