Während Ellen Niels vor uns herlief, sich mit Lilia etwas über diese Stadt unterhielt und uns zu ihrem Haus führte, hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Ihre Bemerkung, ob ich denn selbst wüsste, wer ich sei, ließ mich nicht mehr los. Ich hatte immer gewusst, wer ich war: eine aggressive, angeblich hochbegabte Waise. Mein Platz war immer in dem Waisenhaus gewesen in dem ich aufwuchs, unter meinen Freunden, die mich aufnahmen, als wäre ich ein ausgesetzter Hundewelpe. Jeder Tag hatte dem anderen geglichen, wir hatten uns kaum geändert, lediglich unser Freundeskreis, der am Anfang nur aus Kyle und mir bestand, war mit der Zeit immer weiter angewachsen. Wir waren alle Außenseiter, entweder im Waisenhaus, in der Schule oder in unserer Familie, wie es bei Nora der Fall war. Mein Platz war immer da, wo auch sie waren. Egal wie oft ich von der Polizei aufgegriffen wurde, egal wie oft ich von der Schule suspendiert oder geflogen war, ich konnte mich immer darauf verlassen, dass sie alle noch dieselben waren. Ich wusste, wer ich war und wo ich hingehörte. Doch seitdem Socrate Sleight in meiner Schule aufgetaucht war, hatte sich alles verändert. Ich besaß auf einmal Magie, von der ich vorher noch nie etwas geahnt hatte. Ich kannte den Namen meiner Mutter, konnte mich wieder an meinen Vater erinnern, hatte von meinen Geschwistern erfahren. Ob ich mich verändert hatte, wusste ich nicht. Genauso wenig wie ich wusste, ob es das war, was Ellen meinte. Wenn ich mein Inneres mithilfe von Farben auf eine Leinwand malen sollte, würde ein einziger kunterbunter Tornado das gesamte Bild ausmachen. Ich zeichnete und malte immer nur das, was ich sehen konnte. Niemals brachte ich meine eigenen Gefühle und Gedanken auf Papier. Denn dann hätte ich darüber nachdenken müssen, was das wohl zu bedeuten hätte. Aber ich wollte kein kompliziertes Leben, ich wollte einfach, dass alles so blieb, wie es war. Doch nicht einmal dieser eine Wunsch wurde mir gewährt. Stattdessen war ich nun auf der Flucht, hatte meine Freunde in Gefahr gebracht und dazu auch noch Lilia zu einer Außenseiterin gemacht in dem ich sie aus ihrer Familie gerissen hatte. Ich weiß, wer ich bin, dachte ich bitter. Ich bin ein gottverdammtes Arschloch. >Liam? Ist alles in Ordnung?< Erschrocken sah ich mich um und bemerkte erst jetzt, dass Lilia und Ellen bereits zwei Häuser zuvor angehalten waren und mich verwirrt betrachteten. Ich fuhr mir einmal mit der Hand durch die Haare um meine Zerstreuung zu verbergen und ging dann zu den beiden zurück.
>Ich war nur in Gedanken<, beantwortete ich Lilias Frage unter den wachsamen Blicken von Ellen.
>Bist du sicher?<, fragte Lilia nach, woraufhin die alte Frau eine Augenbraue in die Höhe zog. Sie fand es wohl äußerst amüsant, welche Sorgen ich Lilia mit meinem Verhalten machte. Alte Hexe.
>Ja, ganz sicher<, erwiderte ich, wobei ich Lilia beruhigend anlächelte. Ihrer gerunzelten Stirn nach zu urteilen, war mein Versuch jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Bevor sie allerdings noch weiter nachbohren konnte, unterbrach Ellen diese komische Atmosphäre, die zwischen Lilia und mir zu bestehen schien. Gerettet von einer Hexe... Wunder gibt es ja bekanntlich immer wieder.
>Na kommt. Wir wollen ja nicht ewig hier draußen stehen bleiben und die Landschaft bewundern, nicht?<
>Was gibt's denn hier zu bewundern?<, fragte ich sie, woraufhin Lilia mir ihren Ellenbogen in die Seite rammte. >Was denn? Hier sind doch nur Straßen, Häuser und kleine Gärten<
>Du bist unmöglich, Liam<
>Hä? Warum denn das? Ich hab doch nur die-<
>Kinder, Kinder<, unterbrach uns Ellen wieder einmal. >Hört auf mit eurer Zankerei und kommt gefälligst rein. Es ist kalt draußen< Verwundert sah ich zu der Frau, die es irgendwie geschafft hatte, während der letzten paar Sekunden einen Schlüssel aus ihrer Jacke zu fischen und die Haustür aufzuschließen. Als sie bemerkte, dass sie unsere ungeteilte Aufmerksamkeit besaß, lächelte sie uns einmal an, bedeutete uns ihr zu folgen und schlüpfte ins Innere ihres Hauses. Im Gegensatz zu mir zögerte Lilia keine Sekunde damit ihr hinter her zu gehen, sodass auch mir nichts anderes übrig blieb, als das Haus dieser Hexe zu betreten. Außer ich wollte Lilia zurück lassen, nachdem sie mir das Leben gerettet und damit Verrat begannen hatte. Was ich definitiv nicht wollte. Also trat ich direkt hinter Lilia über die Türschwelle.
*
Das Haus von Ellen Niels war nach Lilias Ansicht nichts besonderes und genau deshalb gefiel es ihr. Nichts Übertriebenes. Ein normales Haus mit zwei Stockwerken, wo man auf den Flur trat, wenn man durch die Haustür kam, dort seine Jacke und Schuhe an einer einfachen Gaderobe ablegte und von dort nicht nur auf eine normale Treppe sah, sondern auch direkt in eine kleine Küche, deren Tür weit und einladend offen stand. Der blaue Teppich auf dem Kinderspielzeug lag, verlieh dem Haus etwas Lebendigkeit. Und sobald man hörte, wie jemand nach Hause kam, wurde man sofort begrüßt, wie Lilia feststellte, als eine Frau aus der Küche kam, kaum dass die Haustür ins Schloss gefallen war. >Mutter, du bist spät dran<, meinte die Brünette nach einen Blick auf Lilia und dem neben ihr stehenden Will, der sich nicht mal ansatzweise so fasziniert wie Lilia umsah. Stattdessen war sein Blick starr auf die Frau vor ihnen gerichtet.
>Ich weiß, Anna. Tut mir leid, dass ich zu spät fürs Abendessen bin, aber ich hab auf dem Friedhof zwei Kinder getroffen, wie du siehst<, antwortete Ellen, während sie ihren Mantel aufhängte. Mit einem Lächeln betrachtete sie ihre Tochter und meinte dann: >Sie haben nach dem Medaillon von Leanas Grab gefragt< Annas Gesichtsausdruck schien sich merklich zu verdüstern, als plötzlich ein kleiner Junge aus einem anderen Zimmer gelaufen kam und sich in Ellens offene Arme warf.
>Oma, da bist du ja wieder! Wo warst du so lange?<, fragte der Kleine, der ebenfalls braune Haare und grüne Augen hatte, genau wie Anna. Lilia schätze ihn auf ungefähr fünf Jahre.
>Louis, lass bitte deine Oma los. Sie ist müde und muss sich noch mit dem Jungen da vorne unterhalten<, meinte Anna und zeigte auf Will. Louis jedoch machte keine Anstalten der Bitte seiner Mutter, zumindest vermutete Lilia, dass es sich bei Anna um seine Mutter handelte, nachzukommen.
>Du hast sie gehört, Louis. Deine Oma, der Junge und ich müssen uns unterhalten<, ertönte da eine Stimme aus dem Zimmer, aus dem zuvor Louis gekommen war. Wills große Augen und das Entsetzten, welches sich auf seinem Gesicht breit machte und ihrem eigenen Gefühl, das sich in ihrem Körper ausbreitete, bestätigten Lilia, dass sie richtig gehört hatte. Langsam drehte sie ihren Kopf in die Richtung aus der die Stimme gekommen war und sah, wie sie erwartet hatte, Reginald Sleight im Türrahmen lehnen. >Lange nicht gesehen, ihr zwei<
Was denkt ihr, möchte Reginald von Will? Glaubt ihr, er ist auf Socrates Seite?Freue mich auf eure Kommis:D
Bis dann;)
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Die Magier - Der König (pausiert)
FantasyNachdem Lilia Will aus der Gefangenschaft Socrates befreite und zurück in die Stadt, in der er lebte, gebracht hatte, wird Will von Albträumen und Stimmen in seinem Kopf geplagt. Doch damit nicht genug, zusammen mit Lilia ist er auf der Flucht vor S...