Kapitel 22

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 „Es gibt Dinge auf dieser Welt, die ich niemals verstehen werde. Nichtmal verstehen will. Das wird mir jedes Mal bewusst, wenn ich den Sleight-Spross sehe, der von allen nur als ein Opfer und Schwächling angesehen wird. Als wäre es so schlimm, dass er nicht so stark und mächtig ist wie sein Vater und seine Schwester. Als wäre es ein Halsbruch, dass er keinen besonders starken Draht zur Magie hat. Dabei ist er doch noch ein Kind, so wie die meisten von uns, hat es verdient so anerkannt zu werden, wie er nun mal ist.

Vielleicht habe ich genau aus diesem Grund Mitleid mit ihm. Weil er genau wie ich keine Anerkennung bekommt. Weil er immer so alleine aussieht, als gäbe es wirklich niemanden, der mit ihm etwas zu tun haben möchte. Ich habe immerhin noch Jonathan. Er ist mein bester Freund (und einziger, wenn ich so überlege). Ich kann mich glücklich schätzen, ihn zu haben, auch wenn er mir des Öfteren am liebsten den Hals umdrehen würde. Reginald hingegen hat niemanden. Zumindest nicht so weit, wie ich das bisher beurteilen konnte. Ja, ich denke, genau das ist der Grund, weshalb ich mich heute ganz einfach in der Bibliothek zu ihm am Tisch, an dem er vollkommen alleine war, gesetzt habe.

Allein der Moment, als er aufsprang, eine Entschuldigung murmelte und sich samt seinen Sachen davon machen wollte, dreht mir selbst jetzt noch den Magen um. Er hat sich schon so sehr daran gewöhnt, allein und ausgestoßen zu sein, dass er überhaupt nicht auf die Idee kommt, jemand könnte es auch nur im entferntesten gut mit ihm meinen. So interpretiere ich zumindest seinen Blick , mit dem er mich bedachte, nachdem ich ihn aufhielt, indem ich seinen Arm packte und ihn zurück auf den Stuhl gezogen hatte. Ich weiß nicht mal, was mich dazu gebracht hatte, die nächsten Worten auszusprechen. Dass ich ihm Nachhilfe geben würde. Als wäre ich ein so guter Lehrer. Ausgerechnet ich, wo ich es doch nicht einmal schaffe, mir selbst einzugestehen, dass ich aus vollkommen idiotischen Gründen vorhabe, das Feuer-Element nach Abschluss meiner Ausbildung zu erlernen. Als könnte mich nicht allein dieses Vorhaben bei dem kleinsten Fehler umbringen. Ausgerechnet so jemand will wem anderes beibringen mehr Kontrolle zu erhalten. Vielleicht habe ich schlichtweg den Verstand verloren.

Tatsächlich war auch Reginald nicht gerade begeistert gewesen. Nein, er war eigentlich gar nicht groß auf mein Angebot eingegangen. Lediglich mich kurz angesehen, als wolle ich ihn auffressen, hatte er. Dann war er aufgesprungen und weg war er. Aufgeben möchte ich trotzdem nicht. Er hat es verdient, gesehen zu werden. Dass man ihm hilft. Und da das anscheinend sonst niemand so empfindet, wird er sich wohl mit mir begnügen müssen."

Es war bereits später Abend des nächsten Tages, als ich mich durch die Einträge aus der Kindheit meines Vaters durchgewühlt hatte. Als ich bei den Jahren angekommen war, die, so kam es mir zumindest vor, die wichtigsten und entscheidendsten waren. Und auch wenn ich noch immer wütend auf Reginald war, weil er mir nichts von unserer Verwandtschaft geschweige denn über die Identität meiner Mutter erzählt und mich allein im Heim des Königs gelassen hatte, so bekam ich mit jedem Satz, den ich las, mehr und mehr Mitleid mit ihm. Denn, wenn ich eines wusste, dann war es, wie man sich als Außenseiter fühlte.

Dass meinem Vater dieses Gefühl auch nicht gerade fremd gewesen war, war ein Tiefschlag für mich gewesen. Seine Einsamkeit war einfach zu vertraut für mich, fast schon als wäre es meine eigene. Ich kannte immerhin das Gefühl, man wäre etwas widerliches, was niemand haben wollte. Ich wusste, wie sehr es schmerzte, wenn man als Waise das Familienleben von anderen sah und wusste, man selbst würde das niemals haben. Lucas, der vor meinen Augen begann immer mehr Gestalt anzunehmen, hatte ähnliches durchgemacht wie ich selbst. Fast schon als wäre es ein Fluch unserer Familie, dass wir nicht lange glücklich waren. Nicht sein durften. Als gäbe es da eine höhere Macht, obwohl ich an so was eigentlich nicht glaubte, die mit allen Mitteln versuchte, uns unser Leben zu vermiesen.

Tief aufseufzend nahm ich die nächste Seite in die Hand, schlug sie um und begann den nächsten Eintrag, der auf wenige Tage nach dem vorherigen datiert war, zu lesen.

„Ich würde gerne sagen, ich hätte mich getäuscht. Getäuscht darin, dass er übersehen wenn nicht gar ignoriert wird. Doch allein der Fakt, dass er bereits seit drei Tagen in meinem Haus ist und niemand nach ihm zu suchen scheint, bestätigt meine Annahme. Nur mit dem Ausmaß seiner Einsamkeit und Verzweiflung habe ich nicht gerechnet.

Ich bin davon ausgegangen, ich müsste ihn schon dazu zwingen, von mir unterrichtet zu werden. Dem ist jedoch nicht so. Bereits zwei Tage nach unserem Gespräch, oder eher meinem Monolog, in der Bibliothek stand er früh morgens, noch mitten in der Dunkelheit vor meiner Haustür. Der Schimmer in seinen Augen, als er mich zögerlich gefragt hatte, ob ich mein Angebot ernst gemeint hätte, werde ich wohl niemals aus meinen Gedanken verbannen können. Er war so stumpf, so ängstlich und doch so voller Hoffnung gewesen, dass ich ihn vermutlich nicht mal dann weggeschickt hätte, wenn ich meine Worte nicht ernst gemeint und ihm nur einen Scherz gespielt hätte.

Tja, und jetzt lebt er bereits seit drei Tagen bei mir in einem der vielen leeren Zimmern, isst mir mein Essen weg und treibt mich auch sonst in den hellen Wahnsinn. Fakt ist, er weiß einfach absolut nichts über die Magie im Allgemeinen, ganz zu schweigen von seiner eigenen. Schlimmer, sie interessiert ihn einfach nicht. Obwohl es ein Teil seiner selbst ist. Und genau deshalb weiß ich einfach nicht, wie ich ihm dabei helfen soll. Irgendwie hab ich mir das Ganze viel leichter vorgestellt."

Ich hab mir mein Leben auch einfacher vorgestellt, Dad.

Die Magier - Der König (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt